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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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geometrisch-strenge Eintheilung von Grund und
Boden, ein genauer Anschlag des jährlichen rei-
nen Einkommens und der Bedürfnisse, ein syste-
matisches Gesetzbuch, gleiche Vertheilung der La-
sten, einförmige Münze, Maß und Gewicht:
alles das bringt ein sogenannter guter Kopf
mit leidlicher Speculation und fleißiger Abwä-
gung von Gründen und Gegengründen -- auf
dem Papiere bald zu Stande.

Stände der Staat ruhig da, wie ein Haus;
blieben die Werkstücke seines Baues, wie wir sie
gefügt haben; strömten nicht jeden Augenblick
neugestaltete Bewohner ein, und die alten hinaus:
so möchte unsre kluge Eintheilung der Zimmer,
und unsre ganze anordnende Weisheit etwas
werth seyn. Jetzt aber wandelt und regt sich
und wechselt in jedem Augenblicke der Stoff un-
srer Kunst; er spottet unsrer Systeme und aller
Geometrie. -- Was ist also natürlicher, als daß
wir auch diesen Wechsel und Wandel der mensch-
lichen Dinge eben so wohl studieren müssen, wie
ihre ruhende Erscheinung! --

Vielleicht fände sich in der vereinigten Be-
wegung der Menschheit oder einer Nation, wenn
wir dieselbe durch Jahrhunderte verfolgten, eine
Art von Gesetz der Bewegung; vielleicht fände
sich, daß, wie jeder Vers seinen eigenthümlichen

geometriſch-ſtrenge Eintheilung von Grund und
Boden, ein genauer Anſchlag des jaͤhrlichen rei-
nen Einkommens und der Beduͤrfniſſe, ein ſyſte-
matiſches Geſetzbuch, gleiche Vertheilung der La-
ſten, einfoͤrmige Muͤnze, Maß und Gewicht:
alles das bringt ein ſogenannter guter Kopf
mit leidlicher Speculation und fleißiger Abwaͤ-
gung von Gruͤnden und Gegengruͤnden — auf
dem Papiere bald zu Stande.

Staͤnde der Staat ruhig da, wie ein Haus;
blieben die Werkſtuͤcke ſeines Baues, wie wir ſie
gefuͤgt haben; ſtroͤmten nicht jeden Augenblick
neugeſtaltete Bewohner ein, und die alten hinaus:
ſo moͤchte unſre kluge Eintheilung der Zimmer,
und unſre ganze anordnende Weisheit etwas
werth ſeyn. Jetzt aber wandelt und regt ſich
und wechſelt in jedem Augenblicke der Stoff un-
ſrer Kunſt; er ſpottet unſrer Syſteme und aller
Geometrie. — Was iſt alſo natuͤrlicher, als daß
wir auch dieſen Wechſel und Wandel der menſch-
lichen Dinge eben ſo wohl ſtudieren muͤſſen, wie
ihre ruhende Erſcheinung! —

Vielleicht faͤnde ſich in der vereinigten Be-
wegung der Menſchheit oder einer Nation, wenn
wir dieſelbe durch Jahrhunderte verfolgten, eine
Art von Geſetz der Bewegung; vielleicht faͤnde
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[95/0129] geometriſch-ſtrenge Eintheilung von Grund und Boden, ein genauer Anſchlag des jaͤhrlichen rei- nen Einkommens und der Beduͤrfniſſe, ein ſyſte- matiſches Geſetzbuch, gleiche Vertheilung der La- ſten, einfoͤrmige Muͤnze, Maß und Gewicht: alles das bringt ein ſogenannter guter Kopf mit leidlicher Speculation und fleißiger Abwaͤ- gung von Gruͤnden und Gegengruͤnden — auf dem Papiere bald zu Stande. Staͤnde der Staat ruhig da, wie ein Haus; blieben die Werkſtuͤcke ſeines Baues, wie wir ſie gefuͤgt haben; ſtroͤmten nicht jeden Augenblick neugeſtaltete Bewohner ein, und die alten hinaus: ſo moͤchte unſre kluge Eintheilung der Zimmer, und unſre ganze anordnende Weisheit etwas werth ſeyn. Jetzt aber wandelt und regt ſich und wechſelt in jedem Augenblicke der Stoff un- ſrer Kunſt; er ſpottet unſrer Syſteme und aller Geometrie. — Was iſt alſo natuͤrlicher, als daß wir auch dieſen Wechſel und Wandel der menſch- lichen Dinge eben ſo wohl ſtudieren muͤſſen, wie ihre ruhende Erſcheinung! — Vielleicht faͤnde ſich in der vereinigten Be- wegung der Menſchheit oder einer Nation, wenn wir dieſelbe durch Jahrhunderte verfolgten, eine Art von Geſetz der Bewegung; vielleicht faͤnde ſich, daß, wie jeder Vers ſeinen eigenthuͤmlichen

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/129>, abgerufen am 22.11.2024.