Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_088.001 Der Reim, sowohl als Anfangs- wie als Endreim, hat die verschiedensten pmu_088.005 6. Jch komme nun zu allen denjenigen Stilmitteln, die ich kurz als die pmu_088.029 Dabei wird uns vor allem die schwierige Frage beschäftigen, ob wir es pmu_088.035 ist meist überhaupt nicht ganz sicher zu erschließen, ob der Dichter die pmu_088.001 Der Reim, sowohl als Anfangs- wie als Endreim, hat die verschiedensten pmu_088.005 6. Jch komme nun zu allen denjenigen Stilmitteln, die ich kurz als die pmu_088.029 Dabei wird uns vor allem die schwierige Frage beschäftigen, ob wir es pmu_088.035 ist meist überhaupt nicht ganz sicher zu erschließen, ob der Dichter die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0098" n="88"/><lb n="pmu_088.001"/> Gefühlsbewertung, die gewiß durchkreuzt werden kann, aber <lb n="pmu_088.002"/> doch ein wichtiger Faktor für die Wirkung ist und bewußt oder unbewußt <lb n="pmu_088.003"/> von den Dichtern beachtet zu werden pflegt.</p> <lb n="pmu_088.004"/> <p> Der <hi rendition="#g">Reim,</hi> sowohl als Anfangs- wie als Endreim, hat die verschiedensten <lb n="pmu_088.005"/> psychologischen Wirkungen. Er ist ein rhythmusverstärkendes <lb n="pmu_088.006"/> Element, wie er auch den Wohlklang der darin enthaltenen Laute wie <lb n="pmu_088.007"/> ihre Bedeutung verstärkt. Ein im Reime stehendes Wort hören wir sozusagen <lb n="pmu_088.008"/> genauer, empfinden seine Lautschönheit stärker, wie sich uns seine <lb n="pmu_088.009"/> Bedeutung mehr einprägt. Daher das Verbot des „<hi rendition="#aq">Enjambement</hi>“, wo <lb n="pmu_088.010"/> ein unwichtiges Wort in den Reim käme, obwohl auch das sich zu eigenartigen, <lb n="pmu_088.011"/> pikanten, oft auch humoristischen Wirkungen ausnutzen läßt. — <lb n="pmu_088.012"/> Auch Spannungs- und Lösungsgefühle gehen in die nicht einfache psychologische <lb n="pmu_088.013"/> Wirkung des Reimes ein. Die Entstehung des Reimes ist historisch <lb n="pmu_088.014"/> noch nicht ganz aufgeklärt. Daß wir es aber mit sehr allgemeinen <lb n="pmu_088.015"/> Wirkungen zu tun haben, beweist die Tatsache, daß ganz verschiedene <lb n="pmu_088.016"/> Literaturen, zwischen denen jeder Einfluß ausgeschlossen ist, z. B. die <lb n="pmu_088.017"/> chinesische und die abendländische, beide den Reim verwenden. Für dies <lb n="pmu_088.018"/> psychologische Verständnis des Reimes möchte ich hier noch auf jenes <lb n="pmu_088.019"/> psychologische Phänomen hinweisen, das in neuester Zeit (von G. E. <lb n="pmu_088.020"/> Müller und vielen andern) als <hi rendition="#g">Perseveration</hi> bezeichnet worden ist. <lb n="pmu_088.021"/> Sie besteht darin, daß Reize auch nach ihrer direkten Einwirkung noch längere <lb n="pmu_088.022"/> Zeit in der Seele nachklingen. Auf solchen Perseverationen beruht <lb n="pmu_088.023"/> psychologisch vor allem die Wirkung des Reims; denn dadurch erst wird <lb n="pmu_088.024"/> jenes Hervortreten der Reimwörter bedingt, was wiederum die Grundlage <lb n="pmu_088.025"/> für die oben besprochenen ästhetischen Wirkungen des Reims abgibt. <lb n="pmu_088.026"/> Daß ein unbewußter Reim störend wirkt, sei nur nebenher erwähnt. Bekanntlich <lb n="pmu_088.027"/> wurde er darum von der ciceronianischen Beredsamkeit verpönt.</p> <lb n="pmu_088.028"/> </div> <div n="3"> <p> 6. <anchor xml:id="mu007"/> Jch komme nun zu allen denjenigen Stilmitteln, die ich kurz als die <lb n="pmu_088.029"/> „Bedeutungsformen“ der Dichtkunst bezeichnen möchte, weil sie durch die <lb n="pmu_088.030"/> Wahl des praktischen Ausdrucks für eine bestimmte Bedeutung poetische <lb n="pmu_088.031"/> Wirkungen erzielen. Jch rechne dazu Metapher, Metonymie, <hi rendition="#aq">Epitheton <lb n="pmu_088.032"/> ornans</hi> und alle die andern, deren längere oder kürzere Liste seit alters <lb n="pmu_088.033"/> die Stilistik verzeichnet. <anchor xml:id="mu008"/> <note targetEnd="#mu008" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-8-1-3" target="#mu007"> Metonymie und Epitheton ornans als Parallelkategorien ('Bedeutungsformen')" </note> </p> <lb n="pmu_088.034"/> <p><anchor xml:id="mu009"/> Dabei wird uns vor allem die schwierige Frage beschäftigen, ob wir es <lb n="pmu_088.035"/> hier mit einer rein sprachlichen Bezeichnung zu tun haben oder mit einer <lb n="pmu_088.036"/> wirklichen besonderen <hi rendition="#g">Apperzeption.</hi> Diese Frage ist darum so schwierig, <lb n="pmu_088.037"/> weil sie uns ganz auf individualpsychologisches Gebiet leitet <anchor xml:id="mu010"/> <note targetEnd="#mu010" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-9-3" target="#mu009"/> , <anchor xml:id="mu011"/> denn es <lb n="pmu_088.038"/> ist meist überhaupt nicht ganz sicher zu erschließen, ob der Dichter die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [88/0098]
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Gefühlsbewertung, die gewiß durchkreuzt werden kann, aber pmu_088.002
doch ein wichtiger Faktor für die Wirkung ist und bewußt oder unbewußt pmu_088.003
von den Dichtern beachtet zu werden pflegt.
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Der Reim, sowohl als Anfangs- wie als Endreim, hat die verschiedensten pmu_088.005
psychologischen Wirkungen. Er ist ein rhythmusverstärkendes pmu_088.006
Element, wie er auch den Wohlklang der darin enthaltenen Laute wie pmu_088.007
ihre Bedeutung verstärkt. Ein im Reime stehendes Wort hören wir sozusagen pmu_088.008
genauer, empfinden seine Lautschönheit stärker, wie sich uns seine pmu_088.009
Bedeutung mehr einprägt. Daher das Verbot des „Enjambement“, wo pmu_088.010
ein unwichtiges Wort in den Reim käme, obwohl auch das sich zu eigenartigen, pmu_088.011
pikanten, oft auch humoristischen Wirkungen ausnutzen läßt. — pmu_088.012
Auch Spannungs- und Lösungsgefühle gehen in die nicht einfache psychologische pmu_088.013
Wirkung des Reimes ein. Die Entstehung des Reimes ist historisch pmu_088.014
noch nicht ganz aufgeklärt. Daß wir es aber mit sehr allgemeinen pmu_088.015
Wirkungen zu tun haben, beweist die Tatsache, daß ganz verschiedene pmu_088.016
Literaturen, zwischen denen jeder Einfluß ausgeschlossen ist, z. B. die pmu_088.017
chinesische und die abendländische, beide den Reim verwenden. Für dies pmu_088.018
psychologische Verständnis des Reimes möchte ich hier noch auf jenes pmu_088.019
psychologische Phänomen hinweisen, das in neuester Zeit (von G. E. pmu_088.020
Müller und vielen andern) als Perseveration bezeichnet worden ist. pmu_088.021
Sie besteht darin, daß Reize auch nach ihrer direkten Einwirkung noch längere pmu_088.022
Zeit in der Seele nachklingen. Auf solchen Perseverationen beruht pmu_088.023
psychologisch vor allem die Wirkung des Reims; denn dadurch erst wird pmu_088.024
jenes Hervortreten der Reimwörter bedingt, was wiederum die Grundlage pmu_088.025
für die oben besprochenen ästhetischen Wirkungen des Reims abgibt. pmu_088.026
Daß ein unbewußter Reim störend wirkt, sei nur nebenher erwähnt. Bekanntlich pmu_088.027
wurde er darum von der ciceronianischen Beredsamkeit verpönt.
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6. Jch komme nun zu allen denjenigen Stilmitteln, die ich kurz als die pmu_088.029
„Bedeutungsformen“ der Dichtkunst bezeichnen möchte, weil sie durch die pmu_088.030
Wahl des praktischen Ausdrucks für eine bestimmte Bedeutung poetische pmu_088.031
Wirkungen erzielen. Jch rechne dazu Metapher, Metonymie, Epitheton pmu_088.032
ornans und alle die andern, deren längere oder kürzere Liste seit alters pmu_088.033
die Stilistik verzeichnet. Metonymie und Epitheton ornans als Parallelkategorien ('Bedeutungsformen')"
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Dabei wird uns vor allem die schwierige Frage beschäftigen, ob wir es pmu_088.035
hier mit einer rein sprachlichen Bezeichnung zu tun haben oder mit einer pmu_088.036
wirklichen besonderen Apperzeption. Diese Frage ist darum so schwierig, pmu_088.037
weil sie uns ganz auf individualpsychologisches Gebiet leitet , denn es pmu_088.038
ist meist überhaupt nicht ganz sicher zu erschließen, ob der Dichter die
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