Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_083.001 sie will zu gleicher Zeit aufs Gefühl wirken und hat doch dabei ganz reale pmu_083.017 Absichten. Besonders wenn zwischen der poetischen Form und der Banalität pmu_083.018 der Absichten ein großer Zwiespalt herrscht, kann der Begriff "Rhetorik" pmu_083.019 zum scharfen Tadel werden. 3. Es wäre nun ganz verkehrt, anzunehmen, daß nur im Verse die akustischen pmu_083.021 pmu_083.001 sie will zu gleicher Zeit aufs Gefühl wirken und hat doch dabei ganz reale pmu_083.017 Absichten. Besonders wenn zwischen der poetischen Form und der Banalität pmu_083.018 der Absichten ein großer Zwiespalt herrscht, kann der Begriff „Rhetorik“ pmu_083.019 zum scharfen Tadel werden. 3. Es wäre nun ganz verkehrt, anzunehmen, daß nur im Verse die akustischen pmu_083.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0093" n="83"/><lb n="pmu_083.001"/> Faktor hinein, der ein gewisses Schwanken bedingt, indem manches als <lb n="pmu_083.002"/> Poesie gedacht ist, aber nicht so wirkt; oder aber indem es auf den einen <lb n="pmu_083.003"/> als Poesie wirkt, auf andre nicht. Jndessen wäre es eine Pseudowissenschaft, <lb n="pmu_083.004"/> die vor solchen Schwierigkeiten die Augen verschließt. Wir werden <lb n="pmu_083.005"/> also sagen, daß alle sprachlichen Gebilde, die ästhetische Wirkungen anstreben <lb n="pmu_083.006"/> oder auslösen, als Poesie anzusehen sind. Zur Nichtpoesie gehören <lb n="pmu_083.007"/> also alle Sprachprodukte, die praktischen Zwecken dienen. Prosa ist daneben <lb n="pmu_083.008"/> nur eine Kennzeichnung der objektiven sprachlichen Form, die sowohl <lb n="pmu_083.009"/> zur Poesie wie zur Nichtpoesie gehören kann. Der Gegensatz zur <lb n="pmu_083.010"/> Prosa ist der Vers, der Gegensatz zur Poesie jedes einem praktischen oder <lb n="pmu_083.011"/> theoretischen Zwecke dienende Sprachgebilde. <anchor xml:id="mu005"/> Bedient sich die Prosa jedoch <lb n="pmu_083.012"/> aller derjenigen Stilformen wie Metapher, <hi rendition="#aq">Epitheton ornans</hi>, Personifikation <lb n="pmu_083.013"/> usw., die wir als „Bedeutungsformen“ bezeichnen, ohne die <lb n="pmu_083.014"/> klanglichen Mittel des Verses, so haben wir es mit <hi rendition="#g">rhetorischer Prosa</hi> <lb n="pmu_083.015"/> zu tun. <anchor xml:id="mu006"/> <note targetEnd="#mu006" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-8-1-4" target="#mu005"> Epitheton ornans und Personifikation als Parallelkategorien der Metapher </note> Diese stellt so ein Zwitterding zwischen Poesie und Prosa dar; <lb n="pmu_083.016"/> sie will zu gleicher Zeit aufs Gefühl wirken und hat doch dabei ganz reale <lb n="pmu_083.017"/> Absichten. Besonders wenn zwischen der poetischen Form und der Banalität <lb n="pmu_083.018"/> der Absichten ein großer Zwiespalt herrscht, kann der Begriff „Rhetorik“ <lb n="pmu_083.019"/> zum scharfen Tadel werden.</p> <lb n="pmu_083.020"/> </div> <div n="3"> <p> 3. Es wäre nun ganz verkehrt, anzunehmen, daß nur im <hi rendition="#g">Verse</hi> die akustischen <lb n="pmu_083.021"/> Elemente der Sprache zur Geltung kämen. Der Vers ist nur die <lb n="pmu_083.022"/> bewußte Organisation solcher Mittel; in der Prosa werden sie mehr oder <lb n="pmu_083.023"/> weniger irregulär verwandt. Aber auch jeder Prosasatz hat seinen Rhythmus, <lb n="pmu_083.024"/> wie er seine bestimmte Klangfärbung hat. Jm übrigen wäre es <lb n="pmu_083.025"/> falsch, zu glauben, daß diese Dinge in der Prosa nicht auch zuweilen mit <lb n="pmu_083.026"/> vollem Bewußtsein angewandt werden. Manche Schriftsteller verwenden <lb n="pmu_083.027"/> die Rhythmik der Prosa mit klarer Absicht. Man lese nur den Briefwechsel <lb n="pmu_083.028"/> Flauberts. Er erzählt von sich, daß er zuweilen bereits den <lb n="pmu_083.029"/> Rhythmus seiner Sätze habe, ehe der Jnhalt da wäre! Hier wäre also <lb n="pmu_083.030"/> sogar in der Prosa die Rhythmik das Primäre. Auch von Schleiermacher <lb n="pmu_083.031"/> wird berichtet, daß er seine Prosa nach rhythmischen Gesichtspunkten baute. <lb n="pmu_083.032"/> Er sagt selbst: „Jch wollte ein bestimmtes Silbenmaß überall durchklingen <lb n="pmu_083.033"/> lassen, im 2. und 4. Monolog den Jamben allein, im 5. den Daktylus <lb n="pmu_083.034"/> und Anapäst, im 1. und 3. hatte ich mir etwas Zusammengesetzes <lb n="pmu_083.035"/> gedacht.“ Ebenso wissen Redner sehr wohl den Klangwert einzelner sonorer <lb n="pmu_083.036"/> Vokale und Worte auszunutzen, um auf den Hörer Eindruck damit zu <lb n="pmu_083.037"/> machen. Jndessen sind alle diese Dinge verhältnismäßig noch recht wenig <lb n="pmu_083.038"/> untersucht, und wir werden daher die psychologischen Wirkungen der </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [83/0093]
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Faktor hinein, der ein gewisses Schwanken bedingt, indem manches als pmu_083.002
Poesie gedacht ist, aber nicht so wirkt; oder aber indem es auf den einen pmu_083.003
als Poesie wirkt, auf andre nicht. Jndessen wäre es eine Pseudowissenschaft, pmu_083.004
die vor solchen Schwierigkeiten die Augen verschließt. Wir werden pmu_083.005
also sagen, daß alle sprachlichen Gebilde, die ästhetische Wirkungen anstreben pmu_083.006
oder auslösen, als Poesie anzusehen sind. Zur Nichtpoesie gehören pmu_083.007
also alle Sprachprodukte, die praktischen Zwecken dienen. Prosa ist daneben pmu_083.008
nur eine Kennzeichnung der objektiven sprachlichen Form, die sowohl pmu_083.009
zur Poesie wie zur Nichtpoesie gehören kann. Der Gegensatz zur pmu_083.010
Prosa ist der Vers, der Gegensatz zur Poesie jedes einem praktischen oder pmu_083.011
theoretischen Zwecke dienende Sprachgebilde. Bedient sich die Prosa jedoch pmu_083.012
aller derjenigen Stilformen wie Metapher, Epitheton ornans, Personifikation pmu_083.013
usw., die wir als „Bedeutungsformen“ bezeichnen, ohne die pmu_083.014
klanglichen Mittel des Verses, so haben wir es mit rhetorischer Prosa pmu_083.015
zu tun. Epitheton ornans und Personifikation als Parallelkategorien der Metapher Diese stellt so ein Zwitterding zwischen Poesie und Prosa dar; pmu_083.016
sie will zu gleicher Zeit aufs Gefühl wirken und hat doch dabei ganz reale pmu_083.017
Absichten. Besonders wenn zwischen der poetischen Form und der Banalität pmu_083.018
der Absichten ein großer Zwiespalt herrscht, kann der Begriff „Rhetorik“ pmu_083.019
zum scharfen Tadel werden.
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3. Es wäre nun ganz verkehrt, anzunehmen, daß nur im Verse die akustischen pmu_083.021
Elemente der Sprache zur Geltung kämen. Der Vers ist nur die pmu_083.022
bewußte Organisation solcher Mittel; in der Prosa werden sie mehr oder pmu_083.023
weniger irregulär verwandt. Aber auch jeder Prosasatz hat seinen Rhythmus, pmu_083.024
wie er seine bestimmte Klangfärbung hat. Jm übrigen wäre es pmu_083.025
falsch, zu glauben, daß diese Dinge in der Prosa nicht auch zuweilen mit pmu_083.026
vollem Bewußtsein angewandt werden. Manche Schriftsteller verwenden pmu_083.027
die Rhythmik der Prosa mit klarer Absicht. Man lese nur den Briefwechsel pmu_083.028
Flauberts. Er erzählt von sich, daß er zuweilen bereits den pmu_083.029
Rhythmus seiner Sätze habe, ehe der Jnhalt da wäre! Hier wäre also pmu_083.030
sogar in der Prosa die Rhythmik das Primäre. Auch von Schleiermacher pmu_083.031
wird berichtet, daß er seine Prosa nach rhythmischen Gesichtspunkten baute. pmu_083.032
Er sagt selbst: „Jch wollte ein bestimmtes Silbenmaß überall durchklingen pmu_083.033
lassen, im 2. und 4. Monolog den Jamben allein, im 5. den Daktylus pmu_083.034
und Anapäst, im 1. und 3. hatte ich mir etwas Zusammengesetzes pmu_083.035
gedacht.“ Ebenso wissen Redner sehr wohl den Klangwert einzelner sonorer pmu_083.036
Vokale und Worte auszunutzen, um auf den Hörer Eindruck damit zu pmu_083.037
machen. Jndessen sind alle diese Dinge verhältnismäßig noch recht wenig pmu_083.038
untersucht, und wir werden daher die psychologischen Wirkungen der
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