Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_079.001 Aus der massenpsychologisch bedingten Veränderung in Aufnahmefähigkeit pmu_079.002 Erfahrungsgemäß sind nun diejenigen Motive die bühnenwirksamsten, pmu_079.008 Diejenigen psychischen Vorgänge nun, die den einzelnen sowohl wie pmu_079.020 pmu_079.001 Aus der massenpsychologisch bedingten Veränderung in Aufnahmefähigkeit pmu_079.002 Erfahrungsgemäß sind nun diejenigen Motive die bühnenwirksamsten, pmu_079.008 Diejenigen psychischen Vorgänge nun, die den einzelnen sowohl wie pmu_079.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0089" n="79"/> <lb n="pmu_079.001"/> <p> Aus der massenpsychologisch bedingten Veränderung in Aufnahmefähigkeit <lb n="pmu_079.002"/> und Disposition des Zuschauers geht nun weiter hervor, daß <lb n="pmu_079.003"/> nicht alle Motive gleich bühnenfähig sind. Wie nicht jeder Gegenstand der <lb n="pmu_079.004"/> Welt geeignet ist, in Marmor gehauen zu werden, so ist auch nicht jedes Ereignis <lb n="pmu_079.005"/> geschaffen, ins Rampenlicht zu treten. Es war ein Grundirrtum <lb n="pmu_079.006"/> des Naturalismus, diese Qualitätsunterschiede im Stofflichen zu leugnen.</p> <lb n="pmu_079.007"/> <p> Erfahrungsgemäß sind nun diejenigen Motive die bühnenwirksamsten, <lb n="pmu_079.008"/> die an das Affekt- und Triebleben des Zuschauers appellieren, ja gerade <lb n="pmu_079.009"/> solche, die ihn zu innerer Mittätigkeit hinreißen. Jch möchte das unklare <lb n="pmu_079.010"/> und vieldeutige Wort <hi rendition="#g">Einfühlung</hi> vermeiden. Tatsächlich findet eine <lb n="pmu_079.011"/> buchstäbliche Einfühlung, ein wirkliches Hineinversetzen in die dargestellte <lb n="pmu_079.012"/> Person nur in sehr seltenen Fällen statt. Es kann gewiß vorkommen, daß <lb n="pmu_079.013"/> ich mich völlig mit einer der dargestellten Personen identifiziere, und in <lb n="pmu_079.014"/> diesem Falle mag man dann von Einfühlung sprechen. Zwischen diesem <lb n="pmu_079.015"/> Zustand und dem bloßen „Zuschauen“, d. h. dem Zustand, wo ich mir <lb n="pmu_079.016"/> meines im Parkett sitzenden Jchs klar bewußt bin, gibt es unzählig viele <lb n="pmu_079.017"/> Zwischenzustände, ein Mit- und Nachfühlen, wo von einer Projektion <lb n="pmu_079.018"/> meines Jch in eine der dargestellten Personen gar keine Rede sein kann.</p> <lb n="pmu_079.019"/> <p> Diejenigen psychischen Vorgänge nun, die den einzelnen sowohl wie <lb n="pmu_079.020"/> die Masse vor allem zum stärksten Mitleben hinreißen, sind Affekte und <lb n="pmu_079.021"/> Triebe. Diese aber kommen im Drama am stärksten zur Geltung in jeder <lb n="pmu_079.022"/> Art von <hi rendition="#g">Kampf.</hi> Daher ist denn auch jede Sorte von Kampfszene das <lb n="pmu_079.023"/> wahre Element für die Erregbarkeit der Massenpsyche. Denn diese will <lb n="pmu_079.024"/> Partei nehmen, will hingerissen und mitgerissen werden, und nichts <lb n="pmu_079.025"/> pflegt daher auf Massen so entflammend zu wirken, wie irgendeine Kampfszene. <lb n="pmu_079.026"/> Wir können es bei jeder Straßenprügelei beobachten, die sofort <lb n="pmu_079.027"/> ihre Zuschauer findet und bei der sofort die Masse innerlich mitgerissen <lb n="pmu_079.028"/> wird und Partei nimmt. Diese Parteistellung kann schwanken, die leichte <lb n="pmu_079.029"/> Suggestibilität und Unsicherheit der Massen ist eines ihrer stärksten Kennzeichen. <lb n="pmu_079.030"/> Aber niemals verfehlt ein Kampf seine Wirkung. Der Kampf <lb n="pmu_079.031"/> ist darum für alle Theaterszenen dasjenige Motiv, das den meisten Erfolg <lb n="pmu_079.032"/> verspricht, weil die Massenpsyche dabei am stärksten erregt wird und alle <lb n="pmu_079.033"/> ihre Leidenschaften und Triebe am lebhaftesten herausgefordert werden. <lb n="pmu_079.034"/> Es ist daher ein Kennzeichen des echten Dramatikers, daß sich ihm alle <lb n="pmu_079.035"/> Handlungsszenen in dieser kampfmäßigen Zuspitzung darstellen. Es kann <lb n="pmu_079.036"/> sich das in einem bloß dialektischen Für und Wider, einem klaren Auseinandertreten <lb n="pmu_079.037"/> von Gegensätzen offenbaren bis zum Kampfe auf Leben und <lb n="pmu_079.038"/> Tod. Mit Recht hat Bab darum bemerkt, daß der dramatische Dialog bis </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [79/0089]
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Aus der massenpsychologisch bedingten Veränderung in Aufnahmefähigkeit pmu_079.002
und Disposition des Zuschauers geht nun weiter hervor, daß pmu_079.003
nicht alle Motive gleich bühnenfähig sind. Wie nicht jeder Gegenstand der pmu_079.004
Welt geeignet ist, in Marmor gehauen zu werden, so ist auch nicht jedes Ereignis pmu_079.005
geschaffen, ins Rampenlicht zu treten. Es war ein Grundirrtum pmu_079.006
des Naturalismus, diese Qualitätsunterschiede im Stofflichen zu leugnen.
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Erfahrungsgemäß sind nun diejenigen Motive die bühnenwirksamsten, pmu_079.008
die an das Affekt- und Triebleben des Zuschauers appellieren, ja gerade pmu_079.009
solche, die ihn zu innerer Mittätigkeit hinreißen. Jch möchte das unklare pmu_079.010
und vieldeutige Wort Einfühlung vermeiden. Tatsächlich findet eine pmu_079.011
buchstäbliche Einfühlung, ein wirkliches Hineinversetzen in die dargestellte pmu_079.012
Person nur in sehr seltenen Fällen statt. Es kann gewiß vorkommen, daß pmu_079.013
ich mich völlig mit einer der dargestellten Personen identifiziere, und in pmu_079.014
diesem Falle mag man dann von Einfühlung sprechen. Zwischen diesem pmu_079.015
Zustand und dem bloßen „Zuschauen“, d. h. dem Zustand, wo ich mir pmu_079.016
meines im Parkett sitzenden Jchs klar bewußt bin, gibt es unzählig viele pmu_079.017
Zwischenzustände, ein Mit- und Nachfühlen, wo von einer Projektion pmu_079.018
meines Jch in eine der dargestellten Personen gar keine Rede sein kann.
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Diejenigen psychischen Vorgänge nun, die den einzelnen sowohl wie pmu_079.020
die Masse vor allem zum stärksten Mitleben hinreißen, sind Affekte und pmu_079.021
Triebe. Diese aber kommen im Drama am stärksten zur Geltung in jeder pmu_079.022
Art von Kampf. Daher ist denn auch jede Sorte von Kampfszene das pmu_079.023
wahre Element für die Erregbarkeit der Massenpsyche. Denn diese will pmu_079.024
Partei nehmen, will hingerissen und mitgerissen werden, und nichts pmu_079.025
pflegt daher auf Massen so entflammend zu wirken, wie irgendeine Kampfszene. pmu_079.026
Wir können es bei jeder Straßenprügelei beobachten, die sofort pmu_079.027
ihre Zuschauer findet und bei der sofort die Masse innerlich mitgerissen pmu_079.028
wird und Partei nimmt. Diese Parteistellung kann schwanken, die leichte pmu_079.029
Suggestibilität und Unsicherheit der Massen ist eines ihrer stärksten Kennzeichen. pmu_079.030
Aber niemals verfehlt ein Kampf seine Wirkung. Der Kampf pmu_079.031
ist darum für alle Theaterszenen dasjenige Motiv, das den meisten Erfolg pmu_079.032
verspricht, weil die Massenpsyche dabei am stärksten erregt wird und alle pmu_079.033
ihre Leidenschaften und Triebe am lebhaftesten herausgefordert werden. pmu_079.034
Es ist daher ein Kennzeichen des echten Dramatikers, daß sich ihm alle pmu_079.035
Handlungsszenen in dieser kampfmäßigen Zuspitzung darstellen. Es kann pmu_079.036
sich das in einem bloß dialektischen Für und Wider, einem klaren Auseinandertreten pmu_079.037
von Gegensätzen offenbaren bis zum Kampfe auf Leben und pmu_079.038
Tod. Mit Recht hat Bab darum bemerkt, daß der dramatische Dialog bis
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