Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_075.001 Vor allem aber zwingt der Umstand, daß das Drama als einheitliches pmu_075.002 12. Eine weitere Eigenheit des Theaters ist es, daß es zu gleicher Zeit pmu_075.021 Trotzdem werden die stärksten Wirkungen immer dort erzielt, wo Auge pmu_075.033 pmu_075.001 Vor allem aber zwingt der Umstand, daß das Drama als einheitliches pmu_075.002 12. Eine weitere Eigenheit des Theaters ist es, daß es zu gleicher Zeit pmu_075.021 Trotzdem werden die stärksten Wirkungen immer dort erzielt, wo Auge pmu_075.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0085" n="75"/> <lb n="pmu_075.001"/> <p> Vor allem aber zwingt der Umstand, daß das Drama als einheitliches <lb n="pmu_075.002"/> Ganzes genossen werden muß, zu weiteren Beschränkungen, die aber ebenfalls <lb n="pmu_075.003"/> wieder zu Tugenden des Kunstwerks werden. Besonders wird dem <lb n="pmu_075.004"/> unmittelbar gegenwärtigen Bühnenwerk gegenüber jede Unterbrechung <lb n="pmu_075.005"/> der Kontinuität viel unangenehmer empfunden als beim Lesen einer Erzählung. <lb n="pmu_075.006"/> Unsre Wirklichkeitsauffassung ist im Theater empfindlicher. Jm <lb n="pmu_075.007"/> Roman sind kühne Sprünge möglich, die im Theater heftig stören. Selbst <lb n="pmu_075.008"/> einem Shakespeare gelingt es im Wintermärchen nicht, uns durch seine <lb n="pmu_075.009"/> prologisierende „Zeit“ die 17 Jahre Zwischenraum hinwegschwatzen zu <lb n="pmu_075.010"/> lassen. Wir empfinden es als Bruch. Daher ist die alte Forderung der <lb n="pmu_075.011"/> Einheit von Ort, Zeit und Handlung durchaus kein so törichtes Dogma, <lb n="pmu_075.012"/> wie man, auf Shakespeare sich berufend, meint. Denn unsre Bühnenpraxis <lb n="pmu_075.013"/> beweist ja deutlich, wie störend das beständige Wechseln ist, und <lb n="pmu_075.014"/> alle Bühneneinrichtungen Shakespearescher Stücke haben letzten Endes <lb n="pmu_075.015"/> nur das Hauptziel, wenigstens annähernd jene Einheitlichkeit heraufzuführen. <lb n="pmu_075.016"/> Daß man diese nicht in dem pedantischen Sinne mancher alter <lb n="pmu_075.017"/> Franzosen nehmen darf, bedarf keiner Worte. Aber seit der attischen Tragödie <lb n="pmu_075.018"/> bis auf Jbsen ist jene Einheitlichkeit, die durch das besondere Wirklichkeitsgefühl <lb n="pmu_075.019"/> des Theaterbesuchers bedingt ist, von starker Wirkung gewesen.</p> <lb n="pmu_075.020"/> </div> <div n="3"> <p> 12. Eine weitere Eigenheit des Theaters ist es, daß es zu gleicher Zeit <lb n="pmu_075.021"/> Auge und Ohr des Publikums beschäftigen muß, eine Doppelung, die <lb n="pmu_075.022"/> doch natürlich als Einheit wirken muß, wenn sie nicht zerstreuen soll. <lb n="pmu_075.023"/> Nicht immer war diese Zweiheit im Gleichgewicht. Jn der Pantomime, <lb n="pmu_075.024"/> die in der Gegenwart besonders im Kinematographentheater neu auflebt, <lb n="pmu_075.025"/> haben wir völliges Überwiegen des Optischen, obwohl bezeichnenderweise <lb n="pmu_075.026"/> die Musik bei solchen Aufführungen schier unentbehrlich scheint. <lb n="pmu_075.027"/> Versuche wie die des Münchener Künstlertheaters wollen auch in höherem <lb n="pmu_075.028"/> Sinne die optischen Wirkungen des Theaters wieder in den Vordergrund <lb n="pmu_075.029"/> schieben. — Sonst nämlich kann man beim Kunstdrama im allgemeinen <lb n="pmu_075.030"/> von einem Überwiegen des akustisch-verbalen Elementes sprechen, was <lb n="pmu_075.031"/> damit zusammenhängt, daß eben „Dichter“ diese Werke ausarbeiteten.</p> <lb n="pmu_075.032"/> <p> Trotzdem werden die stärksten Wirkungen immer dort erzielt, wo Auge <lb n="pmu_075.033"/> und Ohr in gleicher Weise gefesselt sind. Das kann durch Abwechslung <lb n="pmu_075.034"/> geschehen, indem der Dialog durch Aufzüge, Lichteffekte usw. unterbrochen <lb n="pmu_075.035"/> wird. Besser und edler jedoch ist die <hi rendition="#g">simultane</hi> Wirkung, wenn <lb n="pmu_075.036"/> das Sichtbare und das Hörbare zu einheitlicher Wirkung zusammengehen. <lb n="pmu_075.037"/> Es kennzeichnet den genialen Dramatiker, daß er solche Handlungen zu <lb n="pmu_075.038"/> erfinden weiß, in denen der verbal-ideelle Gehalt durch das Sichtbare </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [75/0085]
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Vor allem aber zwingt der Umstand, daß das Drama als einheitliches pmu_075.002
Ganzes genossen werden muß, zu weiteren Beschränkungen, die aber ebenfalls pmu_075.003
wieder zu Tugenden des Kunstwerks werden. Besonders wird dem pmu_075.004
unmittelbar gegenwärtigen Bühnenwerk gegenüber jede Unterbrechung pmu_075.005
der Kontinuität viel unangenehmer empfunden als beim Lesen einer Erzählung. pmu_075.006
Unsre Wirklichkeitsauffassung ist im Theater empfindlicher. Jm pmu_075.007
Roman sind kühne Sprünge möglich, die im Theater heftig stören. Selbst pmu_075.008
einem Shakespeare gelingt es im Wintermärchen nicht, uns durch seine pmu_075.009
prologisierende „Zeit“ die 17 Jahre Zwischenraum hinwegschwatzen zu pmu_075.010
lassen. Wir empfinden es als Bruch. Daher ist die alte Forderung der pmu_075.011
Einheit von Ort, Zeit und Handlung durchaus kein so törichtes Dogma, pmu_075.012
wie man, auf Shakespeare sich berufend, meint. Denn unsre Bühnenpraxis pmu_075.013
beweist ja deutlich, wie störend das beständige Wechseln ist, und pmu_075.014
alle Bühneneinrichtungen Shakespearescher Stücke haben letzten Endes pmu_075.015
nur das Hauptziel, wenigstens annähernd jene Einheitlichkeit heraufzuführen. pmu_075.016
Daß man diese nicht in dem pedantischen Sinne mancher alter pmu_075.017
Franzosen nehmen darf, bedarf keiner Worte. Aber seit der attischen Tragödie pmu_075.018
bis auf Jbsen ist jene Einheitlichkeit, die durch das besondere Wirklichkeitsgefühl pmu_075.019
des Theaterbesuchers bedingt ist, von starker Wirkung gewesen.
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12. Eine weitere Eigenheit des Theaters ist es, daß es zu gleicher Zeit pmu_075.021
Auge und Ohr des Publikums beschäftigen muß, eine Doppelung, die pmu_075.022
doch natürlich als Einheit wirken muß, wenn sie nicht zerstreuen soll. pmu_075.023
Nicht immer war diese Zweiheit im Gleichgewicht. Jn der Pantomime, pmu_075.024
die in der Gegenwart besonders im Kinematographentheater neu auflebt, pmu_075.025
haben wir völliges Überwiegen des Optischen, obwohl bezeichnenderweise pmu_075.026
die Musik bei solchen Aufführungen schier unentbehrlich scheint. pmu_075.027
Versuche wie die des Münchener Künstlertheaters wollen auch in höherem pmu_075.028
Sinne die optischen Wirkungen des Theaters wieder in den Vordergrund pmu_075.029
schieben. — Sonst nämlich kann man beim Kunstdrama im allgemeinen pmu_075.030
von einem Überwiegen des akustisch-verbalen Elementes sprechen, was pmu_075.031
damit zusammenhängt, daß eben „Dichter“ diese Werke ausarbeiteten.
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Trotzdem werden die stärksten Wirkungen immer dort erzielt, wo Auge pmu_075.033
und Ohr in gleicher Weise gefesselt sind. Das kann durch Abwechslung pmu_075.034
geschehen, indem der Dialog durch Aufzüge, Lichteffekte usw. unterbrochen pmu_075.035
wird. Besser und edler jedoch ist die simultane Wirkung, wenn pmu_075.036
das Sichtbare und das Hörbare zu einheitlicher Wirkung zusammengehen. pmu_075.037
Es kennzeichnet den genialen Dramatiker, daß er solche Handlungen zu pmu_075.038
erfinden weiß, in denen der verbal-ideelle Gehalt durch das Sichtbare
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