Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_069.001 Als Kunst des subjektiven Gefühlsausdrucks steht daher die Lyrik der pmu_069.012 Die Form der Lyrik wird also bedingt sein durch die Rücksicht auf diese akustisch-musikalische pmu_069.034 pmu_069.001 Als Kunst des subjektiven Gefühlsausdrucks steht daher die Lyrik der pmu_069.012 Die Form der Lyrik wird also bedingt sein durch die Rücksicht auf diese akustisch-musikalische pmu_069.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0079" n="69"/><lb n="pmu_069.001"/> starkes, überwallendes Gefühl äußern will, würde die Wirkung schwächen <lb n="pmu_069.002"/> durch Wiederholung oder Verwässerung. Wie im Leben, so ist auch in der <lb n="pmu_069.003"/> Kunst das tiefste Gefühl wortkarg und herb, nur das oberflächliche ist <lb n="pmu_069.004"/> geschwätzig. Wir sehen daher, daß die größten Lyriker aller Zeiten kurz <lb n="pmu_069.005"/> gewesen sind im Ausdruck, dafür aber um so prägnanter und wuchtiger; <lb n="pmu_069.006"/> daher auch in der Form die echte Lyrik nicht auf Quantität, sondern auf <lb n="pmu_069.007"/> Qualität geht und die lyrische Form die am feinsten durchgearbeitete und <lb n="pmu_069.008"/> am individuellsten gebildete ist, die auch die geringste Nuance des Gehaltes <lb n="pmu_069.009"/> widerzuspiegeln strebt, während für epische und dramatische Form <lb n="pmu_069.010"/> eine gewisse Gleichförmigkeit charakteristisch ist.</p> <lb n="pmu_069.011"/> <p> Als Kunst des subjektiven Gefühlsausdrucks steht daher die Lyrik der <lb n="pmu_069.012"/> <hi rendition="#g">Musik</hi> auch weitaus am nächsten, denn auch deren Wesen ist ja der subjektive <lb n="pmu_069.013"/> Gefühlsausdruck. Daher hat auch die Lyrik am innigsten den Zusammenhang <lb n="pmu_069.014"/> mit der Musik gewahrt, der unsrer Epik völlig, der Dramatik <lb n="pmu_069.015"/> auch meistens verloren gegangen ist. Das ist nicht nur darum der <lb n="pmu_069.016"/> Fall, weil die meisten guten Gedichte sofort in Musik gesetzt werden oder <lb n="pmu_069.017"/> weil viele Lyriker angeben, sie hätten zugleich mit den Worten auch eine <lb n="pmu_069.018"/> Melodie dazu. — Nein, auch die Lyrik selber, die Art, wie wir sie lesen, <lb n="pmu_069.019"/> ist im tiefsten Wesen musikalisch. Wir pflegen Gedichte zu „deklamieren“ <lb n="pmu_069.020"/> (das ist nicht tadelnd gemeint), d. h. wir wählen dafür einen Vortrag, <lb n="pmu_069.021"/> der wesentlich abweicht von der gewöhnlichen Sprechweise. Diese Abweichungen <lb n="pmu_069.022"/> nun sind ihrem Wesen nach durchaus <hi rendition="#g">musikalisch:</hi> Wir haben <lb n="pmu_069.023"/> da zunächst jenen gleichmäßigen Rhythmus, der das Urelement der Musik <lb n="pmu_069.024"/> ist, wir haben die klare Gliederung und Gestaltung durch Zäsuren, Diäresen, <lb n="pmu_069.025"/> Versende mit und ohne Reim, Strophe usw., wir haben den viel <lb n="pmu_069.026"/> stärker modulierenden <hi rendition="#g">Tonfall,</hi> aus dem nach Spencer sich die Musik <lb n="pmu_069.027"/> ja entwickelt haben soll; wir haben vor allem eine viel stärkere und ausgeprägtere <lb n="pmu_069.028"/> <hi rendition="#g">Dynamik,</hi> alles das aber sind Elemente, die auch für die Musik <lb n="pmu_069.029"/> charakteristisch sind, und die Musik primitiver Völker, die noch keine Harmonie <lb n="pmu_069.030"/> und keine festen Tonstufen kennen, verwendet im Grunde keine <lb n="pmu_069.031"/> andern. Daher ist die Art unsres Versvortrags auch heute noch durchaus <lb n="pmu_069.032"/> als im Wesen musikalisch zu bezeichnen.</p> <lb n="pmu_069.033"/> <p> Die Form der Lyrik wird also bedingt sein durch die Rücksicht auf diese akustisch-musikalische <lb n="pmu_069.034"/> Wirkung, und daher sehen wir, daß in aller echten Lyrik <lb n="pmu_069.035"/> die akustisch-musikalischen Elemente der Sprache viel sorgfältiger gepflegt <lb n="pmu_069.036"/> werden als in den andern Dichtgattungen. Natürlich liegt es im gegenständlichen <lb n="pmu_069.037"/> Charakter der Sprache, daß auch stets ein gegenständlicher Jnhalt <lb n="pmu_069.038"/> vorhanden ist, der in der reinen Musik fehlt, und so steckt in aller Lyrik </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [69/0079]
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starkes, überwallendes Gefühl äußern will, würde die Wirkung schwächen pmu_069.002
durch Wiederholung oder Verwässerung. Wie im Leben, so ist auch in der pmu_069.003
Kunst das tiefste Gefühl wortkarg und herb, nur das oberflächliche ist pmu_069.004
geschwätzig. Wir sehen daher, daß die größten Lyriker aller Zeiten kurz pmu_069.005
gewesen sind im Ausdruck, dafür aber um so prägnanter und wuchtiger; pmu_069.006
daher auch in der Form die echte Lyrik nicht auf Quantität, sondern auf pmu_069.007
Qualität geht und die lyrische Form die am feinsten durchgearbeitete und pmu_069.008
am individuellsten gebildete ist, die auch die geringste Nuance des Gehaltes pmu_069.009
widerzuspiegeln strebt, während für epische und dramatische Form pmu_069.010
eine gewisse Gleichförmigkeit charakteristisch ist.
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Als Kunst des subjektiven Gefühlsausdrucks steht daher die Lyrik der pmu_069.012
Musik auch weitaus am nächsten, denn auch deren Wesen ist ja der subjektive pmu_069.013
Gefühlsausdruck. Daher hat auch die Lyrik am innigsten den Zusammenhang pmu_069.014
mit der Musik gewahrt, der unsrer Epik völlig, der Dramatik pmu_069.015
auch meistens verloren gegangen ist. Das ist nicht nur darum der pmu_069.016
Fall, weil die meisten guten Gedichte sofort in Musik gesetzt werden oder pmu_069.017
weil viele Lyriker angeben, sie hätten zugleich mit den Worten auch eine pmu_069.018
Melodie dazu. — Nein, auch die Lyrik selber, die Art, wie wir sie lesen, pmu_069.019
ist im tiefsten Wesen musikalisch. Wir pflegen Gedichte zu „deklamieren“ pmu_069.020
(das ist nicht tadelnd gemeint), d. h. wir wählen dafür einen Vortrag, pmu_069.021
der wesentlich abweicht von der gewöhnlichen Sprechweise. Diese Abweichungen pmu_069.022
nun sind ihrem Wesen nach durchaus musikalisch: Wir haben pmu_069.023
da zunächst jenen gleichmäßigen Rhythmus, der das Urelement der Musik pmu_069.024
ist, wir haben die klare Gliederung und Gestaltung durch Zäsuren, Diäresen, pmu_069.025
Versende mit und ohne Reim, Strophe usw., wir haben den viel pmu_069.026
stärker modulierenden Tonfall, aus dem nach Spencer sich die Musik pmu_069.027
ja entwickelt haben soll; wir haben vor allem eine viel stärkere und ausgeprägtere pmu_069.028
Dynamik, alles das aber sind Elemente, die auch für die Musik pmu_069.029
charakteristisch sind, und die Musik primitiver Völker, die noch keine Harmonie pmu_069.030
und keine festen Tonstufen kennen, verwendet im Grunde keine pmu_069.031
andern. Daher ist die Art unsres Versvortrags auch heute noch durchaus pmu_069.032
als im Wesen musikalisch zu bezeichnen.
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Die Form der Lyrik wird also bedingt sein durch die Rücksicht auf diese akustisch-musikalische pmu_069.034
Wirkung, und daher sehen wir, daß in aller echten Lyrik pmu_069.035
die akustisch-musikalischen Elemente der Sprache viel sorgfältiger gepflegt pmu_069.036
werden als in den andern Dichtgattungen. Natürlich liegt es im gegenständlichen pmu_069.037
Charakter der Sprache, daß auch stets ein gegenständlicher Jnhalt pmu_069.038
vorhanden ist, der in der reinen Musik fehlt, und so steckt in aller Lyrik
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