Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_048.001 Lassen sich nun allgemeine Prinzipien darüber aufstellen, warum der pmu_048.009 pmu_048.001 Lassen sich nun allgemeine Prinzipien darüber aufstellen, warum der pmu_048.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0058" n="48"/><lb n="pmu_048.001"/> Aber es kann auch mancher gefährliche Jnstinkt dadurch genährt werden, <lb n="pmu_048.002"/> und wenn nicht innere Reife des Lesers oder die sittliche Hoheit des <lb n="pmu_048.003"/> Werkes das ausgleichen, so können Dichtungen ethisch sehr bedenklich wirken, <lb n="pmu_048.004"/> während sie sonst eine menschliche Bereicherung bedeuten. — An sich <lb n="pmu_048.005"/> also braucht keinerlei Stoff als prinzipiell ausgeschlossen zu gelten. Es <lb n="pmu_048.006"/> wird nur die Art der Behandlung sein, die darüber entscheidet, ob ein <lb n="pmu_048.007"/> Stoff poetisch wirkt oder nicht.</p> <lb n="pmu_048.008"/> <p> Lassen sich nun allgemeine Prinzipien darüber aufstellen, warum der <lb n="pmu_048.009"/> eine Stoff wirkt, der andre nicht? Wir wollen versuchen, darüber einige <lb n="pmu_048.010"/> Tatsachen zusammenzubringen, ohne indessen irgendwie vollständig oder <lb n="pmu_048.011"/> abschließend zu sein. Wir haben bereits gesehen, daß man den Begriff <lb n="pmu_048.012"/> des „Typischen“, „Allgemeinmenschlichen“ nicht etwa mit dem Alltäglichen, <lb n="pmu_048.013"/> Durchschnittlichen verwechseln darf. Denn in der Hand eines echten <lb n="pmu_048.014"/> Künstlers kann eine ganz abstruse Geschichte, ein pathologischer Gefühlszustand <lb n="pmu_048.015"/> aufs höchste erschüttern. Jnfolgedessen ist es auch durchaus <lb n="pmu_048.016"/> nicht notwendig, daß die Typisierung so geschehe, daß möglichste Abstraktion <lb n="pmu_048.017"/> erfolge, im Gegenteil, es verträgt sich die allgemeinste, menschlichste <lb n="pmu_048.018"/> Wirkung mit höchster Jndividualität. Werthers Lotte ergreift trotz ihrer <lb n="pmu_048.019"/> viel größeren Jndividualisierung viel allgemeiner als die „natürliche Tochter“. <lb n="pmu_048.020"/> Jch werde später zeigen, daß in der Lyrik der Träger der Gefühle <lb n="pmu_048.021"/> sehr unwesentlich ist, daß es nur auf die Jntensität der Gefühle, ihre suggestive <lb n="pmu_048.022"/> Kraft ankommt. So ist es in der Dichtung überhaupt. Die „typischsten“, <lb n="pmu_048.023"/> „allgemeinsten“ dichterischen Motive sind nicht die durchschnittlichsten, <lb n="pmu_048.024"/> nicht die abstraktesten und unindividuellen, sondern diejenigen, <lb n="pmu_048.025"/> die die größte Suggestionskraft ausüben. Diese aber ist nur sehr zum Teil <lb n="pmu_048.026"/> an den Stoff gebunden, sondern oft liegt es nur an der Wucht, der Leidenschaft <lb n="pmu_048.027"/> und geistigen Weite der Darbietung, daß uns ein ganz fremdes Erlebnis <lb n="pmu_048.028"/> vorkommt, als hätten wir alle es erlebt. Mit andern Worten: <lb n="pmu_048.029"/> Nicht darum, weil wir es erlebt <hi rendition="#g">haben,</hi> erscheint uns das Erlebnis des <lb n="pmu_048.030"/> Helden als typisch, sondern darum, weil wir es in diesem Augenblick miterleben. <lb n="pmu_048.031"/> Und die Wirkung echter Dichtung ist dann die, daß wir diese Erlebnisse <lb n="pmu_048.032"/> in Wirklichkeit in uns selber erkennen, daß sie uns aufschließt, was <lb n="pmu_048.033"/> in uns unklar gelebt hat. Das „<hi rendition="#aq">Tua res agitur</hi>“ braucht nicht so gefaßt zu <lb n="pmu_048.034"/> werden, daß wir schon einmal solches erfahren haben, sondern daß in diesem <lb n="pmu_048.035"/> Augenblick etwas uns zum Erlebnis wird. Allerdings verweben sich <lb n="pmu_048.036"/> uns die Erlebnisse der dargestellten Personen mit den eigenen, was auf <lb n="pmu_048.037"/> jener Fähigkeit der Seele, sich in ganz fremde Vorstellungen hineinzudenken, <lb n="pmu_048.038"/> beruht, die auch sonst im Leben sich zeigt in der Freude an allerlei </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [48/0058]
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Aber es kann auch mancher gefährliche Jnstinkt dadurch genährt werden, pmu_048.002
und wenn nicht innere Reife des Lesers oder die sittliche Hoheit des pmu_048.003
Werkes das ausgleichen, so können Dichtungen ethisch sehr bedenklich wirken, pmu_048.004
während sie sonst eine menschliche Bereicherung bedeuten. — An sich pmu_048.005
also braucht keinerlei Stoff als prinzipiell ausgeschlossen zu gelten. Es pmu_048.006
wird nur die Art der Behandlung sein, die darüber entscheidet, ob ein pmu_048.007
Stoff poetisch wirkt oder nicht.
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Lassen sich nun allgemeine Prinzipien darüber aufstellen, warum der pmu_048.009
eine Stoff wirkt, der andre nicht? Wir wollen versuchen, darüber einige pmu_048.010
Tatsachen zusammenzubringen, ohne indessen irgendwie vollständig oder pmu_048.011
abschließend zu sein. Wir haben bereits gesehen, daß man den Begriff pmu_048.012
des „Typischen“, „Allgemeinmenschlichen“ nicht etwa mit dem Alltäglichen, pmu_048.013
Durchschnittlichen verwechseln darf. Denn in der Hand eines echten pmu_048.014
Künstlers kann eine ganz abstruse Geschichte, ein pathologischer Gefühlszustand pmu_048.015
aufs höchste erschüttern. Jnfolgedessen ist es auch durchaus pmu_048.016
nicht notwendig, daß die Typisierung so geschehe, daß möglichste Abstraktion pmu_048.017
erfolge, im Gegenteil, es verträgt sich die allgemeinste, menschlichste pmu_048.018
Wirkung mit höchster Jndividualität. Werthers Lotte ergreift trotz ihrer pmu_048.019
viel größeren Jndividualisierung viel allgemeiner als die „natürliche Tochter“. pmu_048.020
Jch werde später zeigen, daß in der Lyrik der Träger der Gefühle pmu_048.021
sehr unwesentlich ist, daß es nur auf die Jntensität der Gefühle, ihre suggestive pmu_048.022
Kraft ankommt. So ist es in der Dichtung überhaupt. Die „typischsten“, pmu_048.023
„allgemeinsten“ dichterischen Motive sind nicht die durchschnittlichsten, pmu_048.024
nicht die abstraktesten und unindividuellen, sondern diejenigen, pmu_048.025
die die größte Suggestionskraft ausüben. Diese aber ist nur sehr zum Teil pmu_048.026
an den Stoff gebunden, sondern oft liegt es nur an der Wucht, der Leidenschaft pmu_048.027
und geistigen Weite der Darbietung, daß uns ein ganz fremdes Erlebnis pmu_048.028
vorkommt, als hätten wir alle es erlebt. Mit andern Worten: pmu_048.029
Nicht darum, weil wir es erlebt haben, erscheint uns das Erlebnis des pmu_048.030
Helden als typisch, sondern darum, weil wir es in diesem Augenblick miterleben. pmu_048.031
Und die Wirkung echter Dichtung ist dann die, daß wir diese Erlebnisse pmu_048.032
in Wirklichkeit in uns selber erkennen, daß sie uns aufschließt, was pmu_048.033
in uns unklar gelebt hat. Das „Tua res agitur“ braucht nicht so gefaßt zu pmu_048.034
werden, daß wir schon einmal solches erfahren haben, sondern daß in diesem pmu_048.035
Augenblick etwas uns zum Erlebnis wird. Allerdings verweben sich pmu_048.036
uns die Erlebnisse der dargestellten Personen mit den eigenen, was auf pmu_048.037
jener Fähigkeit der Seele, sich in ganz fremde Vorstellungen hineinzudenken, pmu_048.038
beruht, die auch sonst im Leben sich zeigt in der Freude an allerlei
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