Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_047.001 4. Sind nun alle menschlichen Erlebnisse der dichterischen Verarbeitung pmu_047.010 pmu_047.001 4. Sind nun alle menschlichen Erlebnisse der dichterischen Verarbeitung pmu_047.010 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0057" n="47"/><lb n="pmu_047.001"/> Hintergrund für menschliche Erlebnisse sind. Und zwar werden sie oft <lb n="pmu_047.002"/> dadurch „poetisch“ gemacht, daß sie selber vermenschlicht werden, daß den <lb n="pmu_047.003"/> Pflanzen, dem Wind, den Wolken menschliche Gefühle untergelegt werden, <lb n="pmu_047.004"/> wie wir das nicht nur bei Dichtern, die noch in religiöser Naturmythologie <lb n="pmu_047.005"/> befangen waren, wie Homer, finden, sondern auch bei Dickens, bei <lb n="pmu_047.006"/> Otto Ludwig und andern. Ja, der sogenannte „Naturalist“ Zola kann <lb n="pmu_047.007"/> nicht umhin, seine Warenhäuser, Schnapskneipen, Kohlengruben usw. <lb n="pmu_047.008"/> wie lebendige Wesen zu gestalten.</p> <lb n="pmu_047.009"/> </div> <div n="3"> <p> 4. Sind nun alle menschlichen Erlebnisse der dichterischen Verarbeitung <lb n="pmu_047.010"/> zugänglich? Man wird diese Frage bejahen müssen, wenn man das ganze <lb n="pmu_047.011"/> Arsenal von ungeheuerlichen und ungeheuerlichsten Stoffen überblickt, <lb n="pmu_047.012"/> das die Weltliteratur bietet. Da ist nichts so niedrig, nichts so schmutzig <lb n="pmu_047.013"/> und häßlich, daß es nicht irgendwie einmal zum Stoff einer poetischen <lb n="pmu_047.014"/> Darstellung gedient hätte. Notzucht, Leichenschändung, Muttermord und <lb n="pmu_047.015"/> ähnliches sind sogar sehr beliebte Motive. Nun wird man erwidern, das <lb n="pmu_047.016"/> Verhältnis des Lesers zu diesen Geschehnissen sei rein das des „Zuschauers“, <lb n="pmu_047.017"/> nicht des „Mitspielers“. Gewiß, das mag es zuweilen sein; es mag <lb n="pmu_047.018"/> oft bloß äußerliche Neugier die Menschen zu solchen Darstellungen hinführen. <lb n="pmu_047.019"/> Dennoch kann es das nicht allein sein, denn das würde bald ermüden, <lb n="pmu_047.020"/> und im Grunde muß man einer Dichtung gegenüber immer das <lb n="pmu_047.021"/> Gefühl haben: <hi rendition="#aq">tua res agitur</hi>, wenn sie wirken soll. Und es kann kein Streit <lb n="pmu_047.022"/> darüber sein, daß auch ein Mensch, der nie einen Mord begangen hat, die <lb n="pmu_047.023"/> furchtbaren Gewissensqualen Raskolnikows zitternd miterleben kann, <lb n="pmu_047.024"/> ebenso wie mancher Philister, der nie im Leben den Mut der ehrlichen <lb n="pmu_047.025"/> Überzeugung hätte, sich im Theater für Uriel Akosta begeistert. Es liegt <lb n="pmu_047.026"/> das in dem, was ich beim Dichter die „Steigerung geringer Keime“ genannt <lb n="pmu_047.027"/> habe. Genau wie im Dichter alle möglichen Jnstinkte stecken, die <lb n="pmu_047.028"/> nur nicht im Leben zum Austrag kommen und vielleicht in der Dichtung <lb n="pmu_047.029"/> eine Ableitung erfahren, genau so ist es im empfänglichen Leser. Es stecken <lb n="pmu_047.030"/> in unsrer Seele die Keime zu unendlich viel andern Taten und Erlebnissen, <lb n="pmu_047.031"/> als unser Milieu sie entwickelt. Auf dieser Tatsache beruht die Wirkung <lb n="pmu_047.032"/> vieler Dichterwerke. Auch ein im Leben höchst friedfertiger Mensch, <lb n="pmu_047.033"/> der <hi rendition="#aq">in praxi</hi> nie zum Schwerte greifen würde, kann in Gedanken die <lb n="pmu_047.034"/> ungeheure Wut Michael Kohlhaasens miterleben, darum, weil tief in <lb n="pmu_047.035"/> seiner Seele, nur vom gewöhnlichen Leben unterdrückt, doch auch der <lb n="pmu_047.036"/> Keim zu solch leidenschaftlichem Aufbegehren steckt, wie es der Dichter <lb n="pmu_047.037"/> schildert. Darin liegt ein hoher Wert, aber auch eine Gefahr der Poesie. <lb n="pmu_047.038"/> Sie wecket der dunkeln Gefühle Gewalt, die im Herzen wunderbar schliefen. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0057]
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Hintergrund für menschliche Erlebnisse sind. Und zwar werden sie oft pmu_047.002
dadurch „poetisch“ gemacht, daß sie selber vermenschlicht werden, daß den pmu_047.003
Pflanzen, dem Wind, den Wolken menschliche Gefühle untergelegt werden, pmu_047.004
wie wir das nicht nur bei Dichtern, die noch in religiöser Naturmythologie pmu_047.005
befangen waren, wie Homer, finden, sondern auch bei Dickens, bei pmu_047.006
Otto Ludwig und andern. Ja, der sogenannte „Naturalist“ Zola kann pmu_047.007
nicht umhin, seine Warenhäuser, Schnapskneipen, Kohlengruben usw. pmu_047.008
wie lebendige Wesen zu gestalten.
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4. Sind nun alle menschlichen Erlebnisse der dichterischen Verarbeitung pmu_047.010
zugänglich? Man wird diese Frage bejahen müssen, wenn man das ganze pmu_047.011
Arsenal von ungeheuerlichen und ungeheuerlichsten Stoffen überblickt, pmu_047.012
das die Weltliteratur bietet. Da ist nichts so niedrig, nichts so schmutzig pmu_047.013
und häßlich, daß es nicht irgendwie einmal zum Stoff einer poetischen pmu_047.014
Darstellung gedient hätte. Notzucht, Leichenschändung, Muttermord und pmu_047.015
ähnliches sind sogar sehr beliebte Motive. Nun wird man erwidern, das pmu_047.016
Verhältnis des Lesers zu diesen Geschehnissen sei rein das des „Zuschauers“, pmu_047.017
nicht des „Mitspielers“. Gewiß, das mag es zuweilen sein; es mag pmu_047.018
oft bloß äußerliche Neugier die Menschen zu solchen Darstellungen hinführen. pmu_047.019
Dennoch kann es das nicht allein sein, denn das würde bald ermüden, pmu_047.020
und im Grunde muß man einer Dichtung gegenüber immer das pmu_047.021
Gefühl haben: tua res agitur, wenn sie wirken soll. Und es kann kein Streit pmu_047.022
darüber sein, daß auch ein Mensch, der nie einen Mord begangen hat, die pmu_047.023
furchtbaren Gewissensqualen Raskolnikows zitternd miterleben kann, pmu_047.024
ebenso wie mancher Philister, der nie im Leben den Mut der ehrlichen pmu_047.025
Überzeugung hätte, sich im Theater für Uriel Akosta begeistert. Es liegt pmu_047.026
das in dem, was ich beim Dichter die „Steigerung geringer Keime“ genannt pmu_047.027
habe. Genau wie im Dichter alle möglichen Jnstinkte stecken, die pmu_047.028
nur nicht im Leben zum Austrag kommen und vielleicht in der Dichtung pmu_047.029
eine Ableitung erfahren, genau so ist es im empfänglichen Leser. Es stecken pmu_047.030
in unsrer Seele die Keime zu unendlich viel andern Taten und Erlebnissen, pmu_047.031
als unser Milieu sie entwickelt. Auf dieser Tatsache beruht die Wirkung pmu_047.032
vieler Dichterwerke. Auch ein im Leben höchst friedfertiger Mensch, pmu_047.033
der in praxi nie zum Schwerte greifen würde, kann in Gedanken die pmu_047.034
ungeheure Wut Michael Kohlhaasens miterleben, darum, weil tief in pmu_047.035
seiner Seele, nur vom gewöhnlichen Leben unterdrückt, doch auch der pmu_047.036
Keim zu solch leidenschaftlichem Aufbegehren steckt, wie es der Dichter pmu_047.037
schildert. Darin liegt ein hoher Wert, aber auch eine Gefahr der Poesie. pmu_047.038
Sie wecket der dunkeln Gefühle Gewalt, die im Herzen wunderbar schliefen.
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