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Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.

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Vereinigung der Gegensätze dar. So war, wie wir bereits erwähnten, pmu_042.002
Goethe von Natur aus entschieden Speziellseher, hat sich jedoch selber, pmu_042.003
besonders durch bewußte Schulung an der Antike, daneben auch zum pmu_042.004
Typenseher ausgebildet, so daß seine besten Werke eine harmonische Vereinigung pmu_042.005
von sehr scharf gesehenen Jndividualitäten von hervorragender pmu_042.006
typischer Bedeutung darstellen. Jm übrigen ist auch hier, wie für die andern pmu_042.007
hier besprochenen Typen, die beschriebene Veranlagung mit jeder pmu_042.008
Gefühlsbeanlagung vereinbar.

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16. Um nun verständlich zu finden, daß jene dichterischen Jndividualitäten pmu_042.010
auch Widerhall im Publikum fanden, müssen wir annehmen, daß pmu_042.011
auch unter den Genießenden die entsprechenden Typen vorkommen. Da pmu_042.012
wir bei der Aufstellung der Dichtertypen stets ausgingen von den Typen pmu_042.013
menschlicher Veranlagungen überhaupt, so dürfte es kaum Schwierigkeiten pmu_042.014
machen, das einzusehen. Der Dichter ist wie jeder andre der Sohn pmu_042.015
seiner Zeit. Daher hat er dieselben Dispositionen, wie sie sich überall pmu_042.016
äußern, nur daß sie bei ihm, dem ein Gott zu sagen gab, was ihn freut pmu_042.017
und schmerzt, sichtbarer hervortreten. Dadurch aber, daß er gewissen Tendenzen pmu_042.018
Sprache leiht, verstärkt und klärt er sie und wirkt so auf die Zeit pmu_042.019
zurück, die auch ihn schon gebildet hat. So stellt sich soziologisch das Verhältnis pmu_042.020
des Dichters zu seinem Publikum und seiner Zeit als eine beständige pmu_042.021
Wechselwirkung dar. Alltäglich empfängt er Einflüsse aus seiner Umgebung, pmu_042.022
er verarbeitet diese nach seiner Jndividualität, gibt sie der Zeit pmu_042.023
zurück in neuer Form, die jedoch auch wiederum durch die Rücksicht auf pmu_042.024
jene Umgebung gebildet ist. Weder also als einen, der nur aus eigenster pmu_042.025
Fülle hingibt, noch als bloßes Produkt der Umstände darf man den Dichter pmu_042.026
in seiner Beziehung zu seiner Umgebung ansehen, sondern es ist eine pmu_042.027
immerwährende Wechselwirkung.

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An dieser Stelle wären vielleicht ein paar Worte über das verkannte pmu_042.029
Genie zu sagen. Jch denke dabei nicht an jene Vielzuvielen, die man spöttisch pmu_042.030
so nennt, sondern an jene Großen, die in ihrer Zeit als Fremde wirken, pmu_042.031
abseits stehen und erst in späteren Generationen anerkannt werden.

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Der Grund dieser Verkennung liegt darin, daß jenes Sichentsprechen pmu_042.033
zwischen Künstler und Publikum, von dem oben die Rede war, bei ihnen pmu_042.034
nicht stattfindet. Es kann das daran liegen, daß sie nicht jenen Anpassungsinstinkt pmu_042.035
haben, der die Bedürfnisse seiner Zeit spürt, es kann aber auch pmu_042.036
daran liegen, daß der Künstler so sehr Sohn seiner Zeit ist, daß er schon pmu_042.037
mit feinstem Jnstinkt vorausahnt, was sie brauchen wird. Bekanntlich bewegt pmu_042.038
sich alle Entwicklung in Gegensätzen, da jede Aktion nach gewisser

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Vereinigung der Gegensätze dar. So war, wie wir bereits erwähnten, pmu_042.002
Goethe von Natur aus entschieden Speziellseher, hat sich jedoch selber, pmu_042.003
besonders durch bewußte Schulung an der Antike, daneben auch zum pmu_042.004
Typenseher ausgebildet, so daß seine besten Werke eine harmonische Vereinigung pmu_042.005
von sehr scharf gesehenen Jndividualitäten von hervorragender pmu_042.006
typischer Bedeutung darstellen. Jm übrigen ist auch hier, wie für die andern pmu_042.007
hier besprochenen Typen, die beschriebene Veranlagung mit jeder pmu_042.008
Gefühlsbeanlagung vereinbar.

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16. Um nun verständlich zu finden, daß jene dichterischen Jndividualitäten pmu_042.010
auch Widerhall im Publikum fanden, müssen wir annehmen, daß pmu_042.011
auch unter den Genießenden die entsprechenden Typen vorkommen. Da pmu_042.012
wir bei der Aufstellung der Dichtertypen stets ausgingen von den Typen pmu_042.013
menschlicher Veranlagungen überhaupt, so dürfte es kaum Schwierigkeiten pmu_042.014
machen, das einzusehen. Der Dichter ist wie jeder andre der Sohn pmu_042.015
seiner Zeit. Daher hat er dieselben Dispositionen, wie sie sich überall pmu_042.016
äußern, nur daß sie bei ihm, dem ein Gott zu sagen gab, was ihn freut pmu_042.017
und schmerzt, sichtbarer hervortreten. Dadurch aber, daß er gewissen Tendenzen pmu_042.018
Sprache leiht, verstärkt und klärt er sie und wirkt so auf die Zeit pmu_042.019
zurück, die auch ihn schon gebildet hat. So stellt sich soziologisch das Verhältnis pmu_042.020
des Dichters zu seinem Publikum und seiner Zeit als eine beständige pmu_042.021
Wechselwirkung dar. Alltäglich empfängt er Einflüsse aus seiner Umgebung, pmu_042.022
er verarbeitet diese nach seiner Jndividualität, gibt sie der Zeit pmu_042.023
zurück in neuer Form, die jedoch auch wiederum durch die Rücksicht auf pmu_042.024
jene Umgebung gebildet ist. Weder also als einen, der nur aus eigenster pmu_042.025
Fülle hingibt, noch als bloßes Produkt der Umstände darf man den Dichter pmu_042.026
in seiner Beziehung zu seiner Umgebung ansehen, sondern es ist eine pmu_042.027
immerwährende Wechselwirkung.

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An dieser Stelle wären vielleicht ein paar Worte über das verkannte pmu_042.029
Genie zu sagen. Jch denke dabei nicht an jene Vielzuvielen, die man spöttisch pmu_042.030
so nennt, sondern an jene Großen, die in ihrer Zeit als Fremde wirken, pmu_042.031
abseits stehen und erst in späteren Generationen anerkannt werden.

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Der Grund dieser Verkennung liegt darin, daß jenes Sichentsprechen pmu_042.033
zwischen Künstler und Publikum, von dem oben die Rede war, bei ihnen pmu_042.034
nicht stattfindet. Es kann das daran liegen, daß sie nicht jenen Anpassungsinstinkt pmu_042.035
haben, der die Bedürfnisse seiner Zeit spürt, es kann aber auch pmu_042.036
daran liegen, daß der Künstler so sehr Sohn seiner Zeit ist, daß er schon pmu_042.037
mit feinstem Jnstinkt vorausahnt, was sie brauchen wird. Bekanntlich bewegt pmu_042.038
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[42/0052] pmu_042.001 Vereinigung der Gegensätze dar. So war, wie wir bereits erwähnten, pmu_042.002 Goethe von Natur aus entschieden Speziellseher, hat sich jedoch selber, pmu_042.003 besonders durch bewußte Schulung an der Antike, daneben auch zum pmu_042.004 Typenseher ausgebildet, so daß seine besten Werke eine harmonische Vereinigung pmu_042.005 von sehr scharf gesehenen Jndividualitäten von hervorragender pmu_042.006 typischer Bedeutung darstellen. Jm übrigen ist auch hier, wie für die andern pmu_042.007 hier besprochenen Typen, die beschriebene Veranlagung mit jeder pmu_042.008 Gefühlsbeanlagung vereinbar. pmu_042.009 16. Um nun verständlich zu finden, daß jene dichterischen Jndividualitäten pmu_042.010 auch Widerhall im Publikum fanden, müssen wir annehmen, daß pmu_042.011 auch unter den Genießenden die entsprechenden Typen vorkommen. Da pmu_042.012 wir bei der Aufstellung der Dichtertypen stets ausgingen von den Typen pmu_042.013 menschlicher Veranlagungen überhaupt, so dürfte es kaum Schwierigkeiten pmu_042.014 machen, das einzusehen. Der Dichter ist wie jeder andre der Sohn pmu_042.015 seiner Zeit. Daher hat er dieselben Dispositionen, wie sie sich überall pmu_042.016 äußern, nur daß sie bei ihm, dem ein Gott zu sagen gab, was ihn freut pmu_042.017 und schmerzt, sichtbarer hervortreten. Dadurch aber, daß er gewissen Tendenzen pmu_042.018 Sprache leiht, verstärkt und klärt er sie und wirkt so auf die Zeit pmu_042.019 zurück, die auch ihn schon gebildet hat. So stellt sich soziologisch das Verhältnis pmu_042.020 des Dichters zu seinem Publikum und seiner Zeit als eine beständige pmu_042.021 Wechselwirkung dar. Alltäglich empfängt er Einflüsse aus seiner Umgebung, pmu_042.022 er verarbeitet diese nach seiner Jndividualität, gibt sie der Zeit pmu_042.023 zurück in neuer Form, die jedoch auch wiederum durch die Rücksicht auf pmu_042.024 jene Umgebung gebildet ist. Weder also als einen, der nur aus eigenster pmu_042.025 Fülle hingibt, noch als bloßes Produkt der Umstände darf man den Dichter pmu_042.026 in seiner Beziehung zu seiner Umgebung ansehen, sondern es ist eine pmu_042.027 immerwährende Wechselwirkung. pmu_042.028 An dieser Stelle wären vielleicht ein paar Worte über das verkannte pmu_042.029 Genie zu sagen. Jch denke dabei nicht an jene Vielzuvielen, die man spöttisch pmu_042.030 so nennt, sondern an jene Großen, die in ihrer Zeit als Fremde wirken, pmu_042.031 abseits stehen und erst in späteren Generationen anerkannt werden. pmu_042.032 Der Grund dieser Verkennung liegt darin, daß jenes Sichentsprechen pmu_042.033 zwischen Künstler und Publikum, von dem oben die Rede war, bei ihnen pmu_042.034 nicht stattfindet. Es kann das daran liegen, daß sie nicht jenen Anpassungsinstinkt pmu_042.035 haben, der die Bedürfnisse seiner Zeit spürt, es kann aber auch pmu_042.036 daran liegen, daß der Künstler so sehr Sohn seiner Zeit ist, daß er schon pmu_042.037 mit feinstem Jnstinkt vorausahnt, was sie brauchen wird. Bekanntlich bewegt pmu_042.038 sich alle Entwicklung in Gegensätzen, da jede Aktion nach gewisser

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Zitationshilfe: Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_poetik_1914/52>, abgerufen am 28.11.2024.