Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_038.001 Die Sympathie ist neben der Furcht der Hauptfaktor vor allem des pmu_038.007 Besonders in der Form des Mitleids ist die Sympathie oft der Hebel pmu_038.019 Von allen Affekten der weitaus wichtigste für die Poesie ist der Sexualtrieb pmu_038.024 Daß natürlich Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem Brunstwerben mancher pmu_038.036 pmu_038.001 Die Sympathie ist neben der Furcht der Hauptfaktor vor allem des pmu_038.007 Besonders in der Form des Mitleids ist die Sympathie oft der Hebel pmu_038.019 Von allen Affekten der weitaus wichtigste für die Poesie ist der Sexualtrieb pmu_038.024 Daß natürlich Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem Brunstwerben mancher pmu_038.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0048" n="38"/><lb n="pmu_038.001"/> darf nicht verwechselt werden mit dem Sexualtrieb. Er kann gewiß damit <lb n="pmu_038.002"/> zusammenfallen, aber wie es einen Sexualtrieb ohne Sympathie gibt, <lb n="pmu_038.003"/> so gibt es auch genug Sympathie ohne Sexualtrieb. — Auch dieser Affekt <lb n="pmu_038.004"/> der Sympathie kann so stark sein, daß er das ganze Wesen eines Menschen <lb n="pmu_038.005"/> durchglüht und zum Hauptelement seiner Poesie wird.</p> <lb n="pmu_038.006"/> <p> Die Sympathie ist neben der Furcht der Hauptfaktor vor allem des <lb n="pmu_038.007"/> religiösen Gefühls, und je höher die Religiosität ethisch steht, um so mehr <lb n="pmu_038.008"/> überwiegt die Sympathie darin die Furcht. So ist diese allumspannende <lb n="pmu_038.009"/> Sympathie das Hauptgefühl in der Persönlichkeit Christi, wie sie es in den <lb n="pmu_038.010"/> des heiligen Franz oder aller andern war, deren übergroße Güte die Geschichte <lb n="pmu_038.011"/> feiert. Dabei beschränkt sich diese Sympathie nicht nur auf Menschen. <lb n="pmu_038.012"/> Die ganze Natur wird eingeschlossen und, was noch schwerer <lb n="pmu_038.013"/> scheint, sogar die Werke der Kultur. Man lese Walt Whitman, um einen <lb n="pmu_038.014"/> solchen Dichter zu finden, der mit überschwenglichem Gefühl allen Dingen <lb n="pmu_038.015"/> des Himmels und der Erde seine Arme entgegenbreitet und nichts davon <lb n="pmu_038.016"/> ausnimmt, auch jene Menschen und Stätten nicht, die man sonst ängstlich <lb n="pmu_038.017"/> meidet.</p> <lb n="pmu_038.018"/> <p> Besonders in der Form des <hi rendition="#g">Mitleids</hi> ist die Sympathie oft der Hebel <lb n="pmu_038.019"/> für Poesie geworden, und gerade für einige Dichter der neuern Zeit, für <lb n="pmu_038.020"/> Dostojewski, Dickens, G. Hauptmann ist dieses Gefühl eine Haupttriebfeder <lb n="pmu_038.021"/> des Schaffens geworden. Das starke soziale Gefühl der Gegenwart <lb n="pmu_038.022"/> hat in solchen Gefühlen nicht seine schwächsten Wurzeln.</p> <lb n="pmu_038.023"/> <p> Von allen Affekten der weitaus wichtigste für die Poesie ist der <hi rendition="#g">Sexualtrieb</hi> <lb n="pmu_038.024"/> geworden. Selbst diejenigen Menschen, die später im Leben zehnmal <lb n="pmu_038.025"/> lieber drei Löffel Lebertran als einen Band Verse genießen würden, <lb n="pmu_038.026"/> haben oft selber in der ersten Maienzeit einer jungen Liebe Herz und <lb n="pmu_038.027"/> Schmerz miteinander gereimt. Ja, sicherlich sind vier Fünftel alles Gedichteten <lb n="pmu_038.028"/> erotischen Jnhalts. Es hat darum die Theorie entstehen können, <lb n="pmu_038.029"/> daß alle Poesie im Unterleib wurzele. Jndem man mit übertriebenem <lb n="pmu_038.030"/> Darwinismus darauf hinwies, daß die Tiere sich nur zur Brunstzeit <lb n="pmu_038.031"/> in Kunstleistungen ergingen, wollte man ähnliches für den Menschen erweisen. <lb n="pmu_038.032"/> Da wir bereits eine ganze Reihe andrer Affekte nachgewiesen <lb n="pmu_038.033"/> haben, die die Dichter zum Schaffen veranlaßt haben, so brauchen wir <lb n="pmu_038.034"/> uns mit diesem einseitigen Pansexualismus hier nicht zu beschäftigen.</p> <lb n="pmu_038.035"/> <p> Daß natürlich Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem Brunstwerben mancher <lb n="pmu_038.036"/> Tiere und der menschlichen Kunstübung, kann dabei ruhig zugegeben <lb n="pmu_038.037"/> werden. Aber lange nicht alles Liebesdichten dient der Werbung. Ein <lb n="pmu_038.038"/> mindestens ebenso großer Teil dient der Ablenkung von dem übermächtigen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [38/0048]
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darf nicht verwechselt werden mit dem Sexualtrieb. Er kann gewiß damit pmu_038.002
zusammenfallen, aber wie es einen Sexualtrieb ohne Sympathie gibt, pmu_038.003
so gibt es auch genug Sympathie ohne Sexualtrieb. — Auch dieser Affekt pmu_038.004
der Sympathie kann so stark sein, daß er das ganze Wesen eines Menschen pmu_038.005
durchglüht und zum Hauptelement seiner Poesie wird.
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Die Sympathie ist neben der Furcht der Hauptfaktor vor allem des pmu_038.007
religiösen Gefühls, und je höher die Religiosität ethisch steht, um so mehr pmu_038.008
überwiegt die Sympathie darin die Furcht. So ist diese allumspannende pmu_038.009
Sympathie das Hauptgefühl in der Persönlichkeit Christi, wie sie es in den pmu_038.010
des heiligen Franz oder aller andern war, deren übergroße Güte die Geschichte pmu_038.011
feiert. Dabei beschränkt sich diese Sympathie nicht nur auf Menschen. pmu_038.012
Die ganze Natur wird eingeschlossen und, was noch schwerer pmu_038.013
scheint, sogar die Werke der Kultur. Man lese Walt Whitman, um einen pmu_038.014
solchen Dichter zu finden, der mit überschwenglichem Gefühl allen Dingen pmu_038.015
des Himmels und der Erde seine Arme entgegenbreitet und nichts davon pmu_038.016
ausnimmt, auch jene Menschen und Stätten nicht, die man sonst ängstlich pmu_038.017
meidet.
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Besonders in der Form des Mitleids ist die Sympathie oft der Hebel pmu_038.019
für Poesie geworden, und gerade für einige Dichter der neuern Zeit, für pmu_038.020
Dostojewski, Dickens, G. Hauptmann ist dieses Gefühl eine Haupttriebfeder pmu_038.021
des Schaffens geworden. Das starke soziale Gefühl der Gegenwart pmu_038.022
hat in solchen Gefühlen nicht seine schwächsten Wurzeln.
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Von allen Affekten der weitaus wichtigste für die Poesie ist der Sexualtrieb pmu_038.024
geworden. Selbst diejenigen Menschen, die später im Leben zehnmal pmu_038.025
lieber drei Löffel Lebertran als einen Band Verse genießen würden, pmu_038.026
haben oft selber in der ersten Maienzeit einer jungen Liebe Herz und pmu_038.027
Schmerz miteinander gereimt. Ja, sicherlich sind vier Fünftel alles Gedichteten pmu_038.028
erotischen Jnhalts. Es hat darum die Theorie entstehen können, pmu_038.029
daß alle Poesie im Unterleib wurzele. Jndem man mit übertriebenem pmu_038.030
Darwinismus darauf hinwies, daß die Tiere sich nur zur Brunstzeit pmu_038.031
in Kunstleistungen ergingen, wollte man ähnliches für den Menschen erweisen. pmu_038.032
Da wir bereits eine ganze Reihe andrer Affekte nachgewiesen pmu_038.033
haben, die die Dichter zum Schaffen veranlaßt haben, so brauchen wir pmu_038.034
uns mit diesem einseitigen Pansexualismus hier nicht zu beschäftigen.
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Daß natürlich Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem Brunstwerben mancher pmu_038.036
Tiere und der menschlichen Kunstübung, kann dabei ruhig zugegeben pmu_038.037
werden. Aber lange nicht alles Liebesdichten dient der Werbung. Ein pmu_038.038
mindestens ebenso großer Teil dient der Ablenkung von dem übermächtigen
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