Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_032.001 11. Eine andre Sonderung läßt sich danach vornehmen, ob das gelehrte pmu_032.004 Auch hier zeigen sich nicht nur in den Jndividuen, sondern auch in den pmu_032.010 Oft sich mit diesen beiden Typen deckend, aber durchaus nicht identisch pmu_032.029 Der Unterschied zwischen dem naiven und reflektierenden Dichter ist pmu_032.038 pmu_032.001 11. Eine andre Sonderung läßt sich danach vornehmen, ob das gelehrte pmu_032.004 Auch hier zeigen sich nicht nur in den Jndividuen, sondern auch in den pmu_032.010 Oft sich mit diesen beiden Typen deckend, aber durchaus nicht identisch pmu_032.029 Der Unterschied zwischen dem naiven und reflektierenden Dichter ist pmu_032.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0042" n="32"/><lb n="pmu_032.001"/> ist auch nicht so wichtig, wenn sein Werk als Ganzes nur echte Wirkung <lb n="pmu_032.002"/> auszuüben vermag.</p> <lb n="pmu_032.003"/> </div> <div n="3"> <p> 11. Eine andre Sonderung läßt sich danach vornehmen, ob das <hi rendition="#g">gelehrte</hi> <lb n="pmu_032.004"/> Wissen eines Dichters, also sein Gedächtnis und seine Kenntnisse, sich in <lb n="pmu_032.005"/> der Dichtung zeigen oder nicht. Jn früheren Jahrhunderten hat man gelegentlich <lb n="pmu_032.006"/> ziemlich grob in <hi rendition="#g">Volksdichter</hi> und <hi rendition="#g">gelehrte Dichter</hi> geschieden, <lb n="pmu_032.007"/> wobei man unter Volksdichtern solche verstand, die eben keinerlei <lb n="pmu_032.008"/> Gelehrsamkeit verrieten.</p> <lb n="pmu_032.009"/> <p> Auch hier zeigen sich nicht nur in den Jndividuen, sondern auch in den <lb n="pmu_032.010"/> verschiedenen Zeiten merkwürdige Wandlungen. Jn der Gegenwart <lb n="pmu_032.011"/> scheint uns ja Gelehrsamkeit einen gewissen Gegensatz zur Poesie darzustellen. <lb n="pmu_032.012"/> Nicht alle Zeiten empfanden so. Jn großen Partien des ausgehenden <lb n="pmu_032.013"/> Mittelalters, in der Renaissance, in der Meistersingerpoesie, in <lb n="pmu_032.014"/> den Dichtungen der Barockzeit besonders war für den Dichter mit höherer <lb n="pmu_032.015"/> Kunstabsicht Gelehrsamkeit unentbehrlich. Man spickte die Dichtungen mit <lb n="pmu_032.016"/> weithergeholten Anspielungen aus Mythologie, Geschichte und auch Philosophie <lb n="pmu_032.017"/> und kokettierte in jedem Vers mit solchem Wissen. Jn der neueren <lb n="pmu_032.018"/> Zeit ist, wie gesagt, ein Wandel eingetreten. Hier spielen auch Dichter von <lb n="pmu_032.019"/> überaus vielseitigem Wissen gern die ganz Naiven, was eine zum Teil <lb n="pmu_032.020"/> sehr berechtigte Reaktion gegen die zopfige Gelehrtenpoesie früherer Zeiten <lb n="pmu_032.021"/> ist. Das Volkslied gilt vielen Dichtern als das Jdeal der Dichtung <lb n="pmu_032.022"/> schlechthin. Natürlich ging man in diesem Bestreben auch zu weit, und die <lb n="pmu_032.023"/> merkwürdige Jdeenarmut, die in der neuesten Lyrik vielfach sich geltend <lb n="pmu_032.024"/> macht, dieses Schwelgen in Gefühlen und Empfindungen, als bestünde <lb n="pmu_032.025"/> der Mensch nur aus Nerven ohne jegliche Denkfähigkeit, — alles das geht <lb n="pmu_032.026"/> zum Teil auf eine zu weit getriebene Reaktion gegen die „Gelehrsamkeit“ <lb n="pmu_032.027"/> zurück.</p> <lb n="pmu_032.028"/> <p> Oft sich mit diesen beiden Typen deckend, aber durchaus nicht identisch <lb n="pmu_032.029"/> ist ein andrer Gegensatz, der schon oft bemerkt worden ist: der Gegensatz <lb n="pmu_032.030"/> zwischen <hi rendition="#g">naivem</hi> und <hi rendition="#g">reflektierendem</hi> Dichter. Man nimmt im <lb n="pmu_032.031"/> allgemeinen an, daß die Volksdichter naiv seien. Trotzdem haben wir in <lb n="pmu_032.032"/> der neuesten Zeit Dichter von Volksliedern genug gehabt, wo diese scheinbare <lb n="pmu_032.033"/> Naivität, das Volkstümliche, ein Produkt raffiniertester künstlerischer <lb n="pmu_032.034"/> Reflexion ist. Hier haben wir also einen Fall, wo das Werk allein täuschen <lb n="pmu_032.035"/> kann, wo es unbedingt nötig ist, zur völligen Sicherstellung Zeugnisse <lb n="pmu_032.036"/> und Nachrichten über die Arbeitsweise des Dichters heranzuziehen.</p> <lb n="pmu_032.037"/> <p> Der Unterschied zwischen dem naiven und reflektierenden Dichter ist <lb n="pmu_032.038"/> bedingt durch die geringere oder größere Beteiligung des kritischen, bewußt </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [32/0042]
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ist auch nicht so wichtig, wenn sein Werk als Ganzes nur echte Wirkung pmu_032.002
auszuüben vermag.
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11. Eine andre Sonderung läßt sich danach vornehmen, ob das gelehrte pmu_032.004
Wissen eines Dichters, also sein Gedächtnis und seine Kenntnisse, sich in pmu_032.005
der Dichtung zeigen oder nicht. Jn früheren Jahrhunderten hat man gelegentlich pmu_032.006
ziemlich grob in Volksdichter und gelehrte Dichter geschieden, pmu_032.007
wobei man unter Volksdichtern solche verstand, die eben keinerlei pmu_032.008
Gelehrsamkeit verrieten.
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Auch hier zeigen sich nicht nur in den Jndividuen, sondern auch in den pmu_032.010
verschiedenen Zeiten merkwürdige Wandlungen. Jn der Gegenwart pmu_032.011
scheint uns ja Gelehrsamkeit einen gewissen Gegensatz zur Poesie darzustellen. pmu_032.012
Nicht alle Zeiten empfanden so. Jn großen Partien des ausgehenden pmu_032.013
Mittelalters, in der Renaissance, in der Meistersingerpoesie, in pmu_032.014
den Dichtungen der Barockzeit besonders war für den Dichter mit höherer pmu_032.015
Kunstabsicht Gelehrsamkeit unentbehrlich. Man spickte die Dichtungen mit pmu_032.016
weithergeholten Anspielungen aus Mythologie, Geschichte und auch Philosophie pmu_032.017
und kokettierte in jedem Vers mit solchem Wissen. Jn der neueren pmu_032.018
Zeit ist, wie gesagt, ein Wandel eingetreten. Hier spielen auch Dichter von pmu_032.019
überaus vielseitigem Wissen gern die ganz Naiven, was eine zum Teil pmu_032.020
sehr berechtigte Reaktion gegen die zopfige Gelehrtenpoesie früherer Zeiten pmu_032.021
ist. Das Volkslied gilt vielen Dichtern als das Jdeal der Dichtung pmu_032.022
schlechthin. Natürlich ging man in diesem Bestreben auch zu weit, und die pmu_032.023
merkwürdige Jdeenarmut, die in der neuesten Lyrik vielfach sich geltend pmu_032.024
macht, dieses Schwelgen in Gefühlen und Empfindungen, als bestünde pmu_032.025
der Mensch nur aus Nerven ohne jegliche Denkfähigkeit, — alles das geht pmu_032.026
zum Teil auf eine zu weit getriebene Reaktion gegen die „Gelehrsamkeit“ pmu_032.027
zurück.
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Oft sich mit diesen beiden Typen deckend, aber durchaus nicht identisch pmu_032.029
ist ein andrer Gegensatz, der schon oft bemerkt worden ist: der Gegensatz pmu_032.030
zwischen naivem und reflektierendem Dichter. Man nimmt im pmu_032.031
allgemeinen an, daß die Volksdichter naiv seien. Trotzdem haben wir in pmu_032.032
der neuesten Zeit Dichter von Volksliedern genug gehabt, wo diese scheinbare pmu_032.033
Naivität, das Volkstümliche, ein Produkt raffiniertester künstlerischer pmu_032.034
Reflexion ist. Hier haben wir also einen Fall, wo das Werk allein täuschen pmu_032.035
kann, wo es unbedingt nötig ist, zur völligen Sicherstellung Zeugnisse pmu_032.036
und Nachrichten über die Arbeitsweise des Dichters heranzuziehen.
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Der Unterschied zwischen dem naiven und reflektierenden Dichter ist pmu_032.038
bedingt durch die geringere oder größere Beteiligung des kritischen, bewußt
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