Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_011.001 Wir berühren bei dieser Gelegenheit auch die Frage nach der Berechtigung pmu_011.027 pmu_011.001 Wir berühren bei dieser Gelegenheit auch die Frage nach der Berechtigung pmu_011.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0021" n="11"/><lb n="pmu_011.001"/> auch ethische, religiöse und mancherlei andre Elemente aufzeigen. Bekanntlich <lb n="pmu_011.002"/> ist nun von einer Richtung, die wir als „<hi rendition="#g">Ästhetizismus</hi>“ bezeichnen <lb n="pmu_011.003"/> wollen, die Forderung aufgestellt worden, daß die Kunst nur <lb n="pmu_011.004"/> ästhetisch zu nehmen, daß jegliche andre Wirkung oder Wertung abzulehnen <lb n="pmu_011.005"/> sei. Gewöhnlich zitiert man diese Richtung nach dem Schlagwort <lb n="pmu_011.006"/> „<hi rendition="#aq">L'art pour l'art</hi>!“ — Jn dieser Forderung ist insofern ein berechtigter <lb n="pmu_011.007"/> Kern, als jedes Kunstwerk, das auf diesen Namen Anspruch erhebt, die <lb n="pmu_011.008"/> Möglichkeit bieten muß, rein ästhetisch genommen zu werden. Niemals <lb n="pmu_011.009"/> macht der ethische, religiöse oder soziale Gehalt ein Werk von sich aus zum <lb n="pmu_011.010"/> Kunstwerk, wenn es nicht vermöchte, auch <hi rendition="#g">ästhetisch</hi> zu fesseln. Jndessen <lb n="pmu_011.011"/> hat der Ästhetizismus unrecht, wenn er die Forderung aufstellt, <lb n="pmu_011.012"/> daß alles <hi rendition="#g">Nicht</hi>ästhetische im Kunstwerk völlig zu unterdrücken sei. Es <lb n="pmu_011.013"/> ist das schon an sich eine psychologische Unmöglichkeit, denn die Seele ist <lb n="pmu_011.014"/> immer eine Einheit, in der man nicht, wie in einer Gasleitung, einen Teil <lb n="pmu_011.015"/> abstellen kann. Aber auch die historische Erfahrung beweist die Unrichtigkeit <lb n="pmu_011.016"/> der ästhetizistischen Forderung. Denn von allen großen Dichtern läßt <lb n="pmu_011.017"/> sich nachweisen, daß nicht rein ästhetische Motive sie geleitet haben, sondern <lb n="pmu_011.018"/> daß neben den ästhetischen ethische, soziale, politische, religiöse, kurz <lb n="pmu_011.019"/> Motive aller Art ihr Schaffen bestimmt haben. Dagegen haben diejenigen <lb n="pmu_011.020"/> Dichter, die auf den Ästhetizismus schworen, im besten Fall interessante <lb n="pmu_011.021"/> Treibhauspflanzen hervorgebracht. Aber auch von der Seite des <lb n="pmu_011.022"/> Genießens her läßt sich erweisen, daß überall dort, wo große Dichtungen <lb n="pmu_011.023"/> große Wirkungen hervorgerufen haben, diese Wirkungen nicht rein ästhetisch <lb n="pmu_011.024"/> waren, sondern meist verknüpft mit allem andern Hohen, was Menschenherzen <lb n="pmu_011.025"/> erregen kann.</p> <lb n="pmu_011.026"/> <p> Wir berühren bei dieser Gelegenheit auch die Frage nach der Berechtigung <lb n="pmu_011.027"/> der <hi rendition="#g">Tendenz</hi>kunst. Jn gewissem Sinne, so sahen wir, ist alle <lb n="pmu_011.028"/> große Dichtung „Tendenzkunst“, denn selbst wenn dem Künstler im Bewußtsein <lb n="pmu_011.029"/> nur rein ästhetische Motive gelegen hätten, unbewußt spielen <lb n="pmu_011.030"/> immer alle jene Lebenstendenzen mit, die seine Persönlichkeit bedingen <lb n="pmu_011.031"/> und die sich stets aus dem Werke erkennen lassen. Wenn man im allgemeinen <lb n="pmu_011.032"/> Tendenzpoesie niedriger wertet, so geschieht das darum, weil man <lb n="pmu_011.033"/> unter Tendenzpoesie im besondern solche Dichtung versteht, die eine <lb n="pmu_011.034"/> Tendenz verfolgt, die nicht <hi rendition="#g">allgemein</hi> zu fesseln vermag, die räumlich <lb n="pmu_011.035"/> oder zeitlich begrenzt ist und die daher nicht allgemein menschlich interessieren <lb n="pmu_011.036"/> kann. Zweitens aber versteht man unter Tendenzpoesie eine <lb n="pmu_011.037"/> Art von Poesie, die die Tendenz auf Kosten der rein ästhetischen Gestaltung <lb n="pmu_011.038"/> in den Vordergrund drängt, so daß ein Zerrbild des Lebens entsteht, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [11/0021]
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auch ethische, religiöse und mancherlei andre Elemente aufzeigen. Bekanntlich pmu_011.002
ist nun von einer Richtung, die wir als „Ästhetizismus“ bezeichnen pmu_011.003
wollen, die Forderung aufgestellt worden, daß die Kunst nur pmu_011.004
ästhetisch zu nehmen, daß jegliche andre Wirkung oder Wertung abzulehnen pmu_011.005
sei. Gewöhnlich zitiert man diese Richtung nach dem Schlagwort pmu_011.006
„L'art pour l'art!“ — Jn dieser Forderung ist insofern ein berechtigter pmu_011.007
Kern, als jedes Kunstwerk, das auf diesen Namen Anspruch erhebt, die pmu_011.008
Möglichkeit bieten muß, rein ästhetisch genommen zu werden. Niemals pmu_011.009
macht der ethische, religiöse oder soziale Gehalt ein Werk von sich aus zum pmu_011.010
Kunstwerk, wenn es nicht vermöchte, auch ästhetisch zu fesseln. Jndessen pmu_011.011
hat der Ästhetizismus unrecht, wenn er die Forderung aufstellt, pmu_011.012
daß alles Nichtästhetische im Kunstwerk völlig zu unterdrücken sei. Es pmu_011.013
ist das schon an sich eine psychologische Unmöglichkeit, denn die Seele ist pmu_011.014
immer eine Einheit, in der man nicht, wie in einer Gasleitung, einen Teil pmu_011.015
abstellen kann. Aber auch die historische Erfahrung beweist die Unrichtigkeit pmu_011.016
der ästhetizistischen Forderung. Denn von allen großen Dichtern läßt pmu_011.017
sich nachweisen, daß nicht rein ästhetische Motive sie geleitet haben, sondern pmu_011.018
daß neben den ästhetischen ethische, soziale, politische, religiöse, kurz pmu_011.019
Motive aller Art ihr Schaffen bestimmt haben. Dagegen haben diejenigen pmu_011.020
Dichter, die auf den Ästhetizismus schworen, im besten Fall interessante pmu_011.021
Treibhauspflanzen hervorgebracht. Aber auch von der Seite des pmu_011.022
Genießens her läßt sich erweisen, daß überall dort, wo große Dichtungen pmu_011.023
große Wirkungen hervorgerufen haben, diese Wirkungen nicht rein ästhetisch pmu_011.024
waren, sondern meist verknüpft mit allem andern Hohen, was Menschenherzen pmu_011.025
erregen kann.
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Wir berühren bei dieser Gelegenheit auch die Frage nach der Berechtigung pmu_011.027
der Tendenzkunst. Jn gewissem Sinne, so sahen wir, ist alle pmu_011.028
große Dichtung „Tendenzkunst“, denn selbst wenn dem Künstler im Bewußtsein pmu_011.029
nur rein ästhetische Motive gelegen hätten, unbewußt spielen pmu_011.030
immer alle jene Lebenstendenzen mit, die seine Persönlichkeit bedingen pmu_011.031
und die sich stets aus dem Werke erkennen lassen. Wenn man im allgemeinen pmu_011.032
Tendenzpoesie niedriger wertet, so geschieht das darum, weil man pmu_011.033
unter Tendenzpoesie im besondern solche Dichtung versteht, die eine pmu_011.034
Tendenz verfolgt, die nicht allgemein zu fesseln vermag, die räumlich pmu_011.035
oder zeitlich begrenzt ist und die daher nicht allgemein menschlich interessieren pmu_011.036
kann. Zweitens aber versteht man unter Tendenzpoesie eine pmu_011.037
Art von Poesie, die die Tendenz auf Kosten der rein ästhetischen Gestaltung pmu_011.038
in den Vordergrund drängt, so daß ein Zerrbild des Lebens entsteht,
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