Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_001.001 pmu_001.003Erstes Kapitel. pmu_001.002 Vom Wesen der Dichtung im allgemeinen. 1. Nicht mehr wie einstmals ist es in unserm biologisch denkenden Zeitalter pmu_001.004 Wir unterscheiden also zwei große Gebiete des Lebens: einmal das pmu_001.025 pmu_001.001 pmu_001.003Erstes Kapitel. pmu_001.002 Vom Wesen der Dichtung im allgemeinen. 1. Nicht mehr wie einstmals ist es in unserm biologisch denkenden Zeitalter pmu_001.004 Wir unterscheiden also zwei große Gebiete des Lebens: einmal das pmu_001.025 <TEI> <text> <front> <pb facs="#f0011" n="E1"/> </front> <body> <div n="1"> <div n="2"> <head> <lb n="pmu_001.001"/> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Erstes Kapitel.</hi><lb n="pmu_001.002"/> Vom Wesen der Dichtung im allgemeinen.</hi> </head> <lb n="pmu_001.003"/> <div n="3"> <p> 1. Nicht mehr wie einstmals ist es in unserm biologisch denkenden Zeitalter <lb n="pmu_001.004"/> möglich, die Dichtkunst als ein den Sterblichen gereichtes Göttergeschenk <lb n="pmu_001.005"/> zu fassen, das nichts gemein habe mit dem irdischen Leben. Auch <lb n="pmu_001.006"/> die weitverbreitete Ansicht, daß Poesie ein entbehrlicher Luxus oder eine <lb n="pmu_001.007"/> löbliche, dem wahren Leben entgegengesetzte Spielerei sei, läßt sich nicht <lb n="pmu_001.008"/> halten. Wäre Poesie nichts weiter als das, so wäre kaum zu begreifen, <lb n="pmu_001.009"/> daß fast kein Volk der Erde ohne sie ausgekommen ist, und daß Männer <lb n="pmu_001.010"/> auch von höchster allgemeiner Begabung sich ganz nur ihr gewidmet haben. <lb n="pmu_001.011"/> Nein, die Poesie ist aufs tiefste verwurzelt und verwachsen mit dem <lb n="pmu_001.012"/> übrigen Leben und bringt Frucht und Samen, der neue Zeugungen wiederum <lb n="pmu_001.013"/> wirkt in der Welt der Praxis. Sie ist eine <hi rendition="#g">Ergänzu</hi>ng, und zwar <lb n="pmu_001.014"/> eine <hi rendition="#g">notwendige</hi> Ergänzung des praktischen Lebens, wie es auch alle <lb n="pmu_001.015"/> übrigen ästhetischen Funktionen sind. Die Poesie steht so neben den andern <lb n="pmu_001.016"/> Künsten und auch dem Spiele, und wie bei diesen beruht ihr biologischer <lb n="pmu_001.017"/> Wert darin, solche Anlagen und Fähigkeiten in uns zu üben, die sonst <lb n="pmu_001.018"/> brachliegen und verkümmern würden bei der Einseitigkeit, die jede praktische <lb n="pmu_001.019"/> Lebensführung mit sich bringt. Erst durch die Kunst kann der Mensch <lb n="pmu_001.020"/> zu jener „Totalität“ gebildet werden, die Schiller als Jdeal erschaute. <lb n="pmu_001.021"/> Und neuere Forscher haben auch physiologisch und biologisch nachgewiesen, <lb n="pmu_001.022"/> in welcher Weise die ästhetische Betätigung jene harmonische Durchbildung <lb n="pmu_001.023"/> des gesamten Organismus erzielt, die biologisch notwendig ist.</p> <lb n="pmu_001.024"/> <p> Wir unterscheiden also zwei große Gebiete des Lebens: einmal das <lb n="pmu_001.025"/> <hi rendition="#g">praktische Leben,</hi> dessen Äußerungen auf bestimmte, nicht in ihnen selber <lb n="pmu_001.026"/> liegende Zwecke gerichtet sind, und andrerseits das <hi rendition="#g">ästhetische</hi> Leben, <lb n="pmu_001.027"/> das keine äußeren Zwecke verfolgt, sondern seinen Wert in sich selber trägt, <lb n="pmu_001.028"/> was sich biologisch als eine Übung von solchen Organen und Funktionen <lb n="pmu_001.029"/> darstellt, die sonst brachliegen würden. Jn unserm Bewußtsein macht sich <lb n="pmu_001.030"/> das durch Auftreten von begleitenden Lustgefühlen bemerkbar. Während <lb n="pmu_001.031"/> wir dem praktischen Leben fast alle unsre Berufstätigkeiten zurechnen müssen, <lb n="pmu_001.032"/> gehören zum ästhetischen Leben Spiel, theoretische Wissenschaft und <lb n="pmu_001.033"/> Kunst. Wir betrachten also die Kunst nicht, wie das zuweilen geschehen ist, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [E1/0011]
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Erstes Kapitel. pmu_001.002
Vom Wesen der Dichtung im allgemeinen. pmu_001.003
1. Nicht mehr wie einstmals ist es in unserm biologisch denkenden Zeitalter pmu_001.004
möglich, die Dichtkunst als ein den Sterblichen gereichtes Göttergeschenk pmu_001.005
zu fassen, das nichts gemein habe mit dem irdischen Leben. Auch pmu_001.006
die weitverbreitete Ansicht, daß Poesie ein entbehrlicher Luxus oder eine pmu_001.007
löbliche, dem wahren Leben entgegengesetzte Spielerei sei, läßt sich nicht pmu_001.008
halten. Wäre Poesie nichts weiter als das, so wäre kaum zu begreifen, pmu_001.009
daß fast kein Volk der Erde ohne sie ausgekommen ist, und daß Männer pmu_001.010
auch von höchster allgemeiner Begabung sich ganz nur ihr gewidmet haben. pmu_001.011
Nein, die Poesie ist aufs tiefste verwurzelt und verwachsen mit dem pmu_001.012
übrigen Leben und bringt Frucht und Samen, der neue Zeugungen wiederum pmu_001.013
wirkt in der Welt der Praxis. Sie ist eine Ergänzung, und zwar pmu_001.014
eine notwendige Ergänzung des praktischen Lebens, wie es auch alle pmu_001.015
übrigen ästhetischen Funktionen sind. Die Poesie steht so neben den andern pmu_001.016
Künsten und auch dem Spiele, und wie bei diesen beruht ihr biologischer pmu_001.017
Wert darin, solche Anlagen und Fähigkeiten in uns zu üben, die sonst pmu_001.018
brachliegen und verkümmern würden bei der Einseitigkeit, die jede praktische pmu_001.019
Lebensführung mit sich bringt. Erst durch die Kunst kann der Mensch pmu_001.020
zu jener „Totalität“ gebildet werden, die Schiller als Jdeal erschaute. pmu_001.021
Und neuere Forscher haben auch physiologisch und biologisch nachgewiesen, pmu_001.022
in welcher Weise die ästhetische Betätigung jene harmonische Durchbildung pmu_001.023
des gesamten Organismus erzielt, die biologisch notwendig ist.
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Wir unterscheiden also zwei große Gebiete des Lebens: einmal das pmu_001.025
praktische Leben, dessen Äußerungen auf bestimmte, nicht in ihnen selber pmu_001.026
liegende Zwecke gerichtet sind, und andrerseits das ästhetische Leben, pmu_001.027
das keine äußeren Zwecke verfolgt, sondern seinen Wert in sich selber trägt, pmu_001.028
was sich biologisch als eine Übung von solchen Organen und Funktionen pmu_001.029
darstellt, die sonst brachliegen würden. Jn unserm Bewußtsein macht sich pmu_001.030
das durch Auftreten von begleitenden Lustgefühlen bemerkbar. Während pmu_001.031
wir dem praktischen Leben fast alle unsre Berufstätigkeiten zurechnen müssen, pmu_001.032
gehören zum ästhetischen Leben Spiel, theoretische Wissenschaft und pmu_001.033
Kunst. Wir betrachten also die Kunst nicht, wie das zuweilen geschehen ist,
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