Müller-Freienfels, Richard: Poetik. Leipzig u. a., 1914.pmu_092.001 Es kann natürlich nicht die Aufgabe dieser allgemeinen Poetik sein, pmu_092.022 pmu_092.001 Es kann natürlich nicht die Aufgabe dieser allgemeinen Poetik sein, pmu_092.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0102" n="92"/><lb n="pmu_092.001"/> Form und gehen leicht ineinander über. So kann ich sagen: „das <lb n="pmu_092.002"/> goldene Haar“ und habe ein <hi rendition="#aq">Epitheton ornans</hi>; sage ich: „Haare wie <lb n="pmu_092.003"/> Gold“, so ist es ein Gleichnis, sage ich das „Gold ihres Hauptes“, so ist es <lb n="pmu_092.004"/> eine Metapher usw. Das Gemeinsame in allen diesen Formen ist eine <lb n="pmu_092.005"/> Apperzeption, die noch andre Elemente an den unmittelbar gegebenen <lb n="pmu_092.006"/> Sinnesinhalt heranführt, die (wenigstens soweit poetische Absichten vorliegen) <lb n="pmu_092.007"/> gefühlsverstärkend wirken sollen. Die sprachliche Form, die man <lb n="pmu_092.008"/> dann gibt, ist sekundär. Jn den meisten Fällen geht nach öfterem Gebrauch <lb n="pmu_092.009"/> sehr bald der ursprüngliche Doppelcharakter dieser Apperzeption verloren, <lb n="pmu_092.010"/> und es bleibt nur die sprachliche Form mit einer Gefühlsnote. — Es ist <lb n="pmu_092.011"/> also ziemlich gleichgültig, ob einer das Gold wirklich in einer Vorstellung <lb n="pmu_092.012"/> reproduziert, was bekanntlich nur dem „visuellen Typus“ einigermaßen <lb n="pmu_092.013"/> möglich ist. Worauf es ankommt, ist eben, daß der ungefähre <hi rendition="#g">Gefühls-</hi> <lb n="pmu_092.014"/> wert des Schönen, Leuchtenden, Aparten anklingt. Besonders bei solchen <lb n="pmu_092.015"/> Stilformen wie der Hyperbel wird das ja klar, denn die meisten Hyperbeln <lb n="pmu_092.016"/> werden lächerlich, sowie man versucht, sie sich auszumalen. Um <lb n="pmu_092.017"/> ein verhältnismäßig einfaches Beispiel zu geben, nehme ich Uhlands <lb n="pmu_092.018"/> Vers, worin er von seiner Königstochter sagt: „Herrlich wie eine Sonne!“ <lb n="pmu_092.019"/> Hier ist wie bei allen Hyperbeln nur der Gefühlsgehalt, nicht der sachliche <lb n="pmu_092.020"/> Jnhalt mit seinen Dimensionen das Wesentliche.</p> <lb n="pmu_092.021"/> <p> Es kann natürlich nicht die Aufgabe dieser allgemeinen Poetik sein, <lb n="pmu_092.022"/> alle Figuren, Tropen usw. der Reihe nach durchzunehmen. Jch greife nur <lb n="pmu_092.023"/> die wesentlichsten heraus und behandle zunächst das <hi rendition="#g">Epitheton.</hi> Hier <lb n="pmu_092.024"/> hat R. M. Meyer nachgewiesen, daß im Laufe der Zeiten sich eine ganz <lb n="pmu_092.025"/> bestimmte Entwicklung aufzeigen läßt, und zwar im Sinne einer immer <lb n="pmu_092.026"/> größeren Annäherung an das <hi rendition="#g">Jndividuelle, Einmalige,</hi> einer immer <lb n="pmu_092.027"/> größeren Herausarbeitung des Charakteristischen. Nach unsern Ergebnissen, <lb n="pmu_092.028"/> die wir oben vorwegnahmen, würde das ein immer größeres <lb n="pmu_092.029"/> Überwiegen des sachlichen Elements über das gefühlsverstärkende, rein <lb n="pmu_092.030"/> poetische Element darstellen, die, wie wir zeigten, beide in allen diesen <lb n="pmu_092.031"/> Stilformen vorkommen können. Am besten läßt sich eine solche fortschreitende <lb n="pmu_092.032"/> Exaktheit in der Entwicklung des Farbenadjektivs zeigen. Statistische <lb n="pmu_092.033"/> Untersuchungen, besonders die von Groos, haben das auch genau <lb n="pmu_092.034"/> festgelegt. So sind noch die deutschen Klassiker verhältnismäßig ziemlich <lb n="pmu_092.035"/> arm an genauen Farbenbezeichnungen, und meist kommt es dort weniger <lb n="pmu_092.036"/> auf die Farben als Vorstellungen an, sondern auf den damit assoziierten <lb n="pmu_092.037"/> Gefühlston. Das blaßrosa Band an Lottes Kleid im Werther springt <lb n="pmu_092.038"/> direkt heraus durch seine Exaktheit. — Dagegen ist die neuere Poesie oft </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [92/0102]
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Form und gehen leicht ineinander über. So kann ich sagen: „das pmu_092.002
goldene Haar“ und habe ein Epitheton ornans; sage ich: „Haare wie pmu_092.003
Gold“, so ist es ein Gleichnis, sage ich das „Gold ihres Hauptes“, so ist es pmu_092.004
eine Metapher usw. Das Gemeinsame in allen diesen Formen ist eine pmu_092.005
Apperzeption, die noch andre Elemente an den unmittelbar gegebenen pmu_092.006
Sinnesinhalt heranführt, die (wenigstens soweit poetische Absichten vorliegen) pmu_092.007
gefühlsverstärkend wirken sollen. Die sprachliche Form, die man pmu_092.008
dann gibt, ist sekundär. Jn den meisten Fällen geht nach öfterem Gebrauch pmu_092.009
sehr bald der ursprüngliche Doppelcharakter dieser Apperzeption verloren, pmu_092.010
und es bleibt nur die sprachliche Form mit einer Gefühlsnote. — Es ist pmu_092.011
also ziemlich gleichgültig, ob einer das Gold wirklich in einer Vorstellung pmu_092.012
reproduziert, was bekanntlich nur dem „visuellen Typus“ einigermaßen pmu_092.013
möglich ist. Worauf es ankommt, ist eben, daß der ungefähre Gefühls- pmu_092.014
wert des Schönen, Leuchtenden, Aparten anklingt. Besonders bei solchen pmu_092.015
Stilformen wie der Hyperbel wird das ja klar, denn die meisten Hyperbeln pmu_092.016
werden lächerlich, sowie man versucht, sie sich auszumalen. Um pmu_092.017
ein verhältnismäßig einfaches Beispiel zu geben, nehme ich Uhlands pmu_092.018
Vers, worin er von seiner Königstochter sagt: „Herrlich wie eine Sonne!“ pmu_092.019
Hier ist wie bei allen Hyperbeln nur der Gefühlsgehalt, nicht der sachliche pmu_092.020
Jnhalt mit seinen Dimensionen das Wesentliche.
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Es kann natürlich nicht die Aufgabe dieser allgemeinen Poetik sein, pmu_092.022
alle Figuren, Tropen usw. der Reihe nach durchzunehmen. Jch greife nur pmu_092.023
die wesentlichsten heraus und behandle zunächst das Epitheton. Hier pmu_092.024
hat R. M. Meyer nachgewiesen, daß im Laufe der Zeiten sich eine ganz pmu_092.025
bestimmte Entwicklung aufzeigen läßt, und zwar im Sinne einer immer pmu_092.026
größeren Annäherung an das Jndividuelle, Einmalige, einer immer pmu_092.027
größeren Herausarbeitung des Charakteristischen. Nach unsern Ergebnissen, pmu_092.028
die wir oben vorwegnahmen, würde das ein immer größeres pmu_092.029
Überwiegen des sachlichen Elements über das gefühlsverstärkende, rein pmu_092.030
poetische Element darstellen, die, wie wir zeigten, beide in allen diesen pmu_092.031
Stilformen vorkommen können. Am besten läßt sich eine solche fortschreitende pmu_092.032
Exaktheit in der Entwicklung des Farbenadjektivs zeigen. Statistische pmu_092.033
Untersuchungen, besonders die von Groos, haben das auch genau pmu_092.034
festgelegt. So sind noch die deutschen Klassiker verhältnismäßig ziemlich pmu_092.035
arm an genauen Farbenbezeichnungen, und meist kommt es dort weniger pmu_092.036
auf die Farben als Vorstellungen an, sondern auf den damit assoziierten pmu_092.037
Gefühlston. Das blaßrosa Band an Lottes Kleid im Werther springt pmu_092.038
direkt heraus durch seine Exaktheit. — Dagegen ist die neuere Poesie oft
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