andern guten Eigenschaften der Griechen jene zurückhaltende Scho- nung der eignen Kräfte, wovon Jacobs kürzlich ein beachtenswer- thes Wort gesprochen, jene Scheu bei eifriger Verfolgung der eig- nen Ansicht die Rechte des Andern im geistigen Verkehr zu kränken, unter uns Nachfolge verdienen. Dies ist es aber grade, was an dieser Polemik oft vermißt wird, die allgemeine Voraussetzung, daß der Gegner etwas Vernünftiges und Ueberlegtes sage, die ru- hige Erwägung seiner Behauptungen und Gründe, und das Be- mühen sie in ihrem Zusammenhange richtig aufzufassen. Ein solches Verfahren, wie wir es wohl von einander im gewöhnlichen geselligen Verkehr, um wie viel mehr im litterarischen erwarten, in welchem sonst sich Mißverstand auf Mißverstand häuft, würde Herrn Thiersch gewiß vor manchen Fehlgriffen behütet haben. Der Vf. will einige Beispiele anführen, welche nicht ästhetische, sondern historische Punkte betreffen, worüber es doch im Ganzen leichter ist sich zu verstän- digen. Wenn Herr Thiersch mit einer dem Interesse der Sache an- gemessnen Sorgfalt beachtet hätte, was Hirt über die Samische Künstlerschule und das Ephesische Heiligthum geschrieben: so hätte er die Erbauer dieses Heiligthums, zu welchem nach dem von Hirt mit Recht zum Grunde gelegten Herodotischen Zeugniß Krösos die mei- sten Säulen schenkte, gewiß nicht um den Anfang der Olympiaden setzen können (S. 137. 182), und seine Meinung von dem hohen Alterthum der Samischen Schule aufgeben oder sehr modificiren müssen, die ihn jetzt unter andern nöthigt, den Rheginer Learchos lange vor den Anfang der Olympiaden zu setzen (S. 47.), d. h. Jahrhunderte früher ehe die Chalkidier Rhegion gründeten. Hätte H. Th. die ihm nicht unbekannt gebliebne Abhandlung des Vf. de Phidiae vita einer größern Aufmerksamkeit und einer ruhigern Er- wägung gewürdigt: so würde er, Anderes zu geschweigen, dem Vf. nicht die Meinung zuschreiben (S. 115), Phidias Geburtszeit treffe auf Ol. 70 (statt 73), durch welche Veränderung freilich die übrigen Rechnungen des Vf. ohne dessen Schuld in große Confu- sion gerathen und leicht widerlegbar werden; er würde auch (S.
andern guten Eigenſchaften der Griechen jene zurückhaltende Scho- nung der eignen Kräfte, wovon Jacobs kürzlich ein beachtenswer- thes Wort geſprochen, jene Scheu bei eifriger Verfolgung der eig- nen Anſicht die Rechte des Andern im geiſtigen Verkehr zu kränken, unter uns Nachfolge verdienen. Dies iſt es aber grade, was an dieſer Polemik oft vermißt wird, die allgemeine Vorausſetzung, daß der Gegner etwas Vernünftiges und Ueberlegtes ſage, die ru- hige Erwägung ſeiner Behauptungen und Gründe, und das Be- mühen ſie in ihrem Zuſammenhange richtig aufzufaſſen. Ein ſolches Verfahren, wie wir es wohl von einander im gewöhnlichen geſelligen Verkehr, um wie viel mehr im litterariſchen erwarten, in welchem ſonſt ſich Mißverſtand auf Mißverſtand häuft, würde Herrn Thierſch gewiß vor manchen Fehlgriffen behütet haben. Der Vf. will einige Beiſpiele anführen, welche nicht äſthetiſche, ſondern hiſtoriſche Punkte betreffen, worüber es doch im Ganzen leichter iſt ſich zu verſtän- digen. Wenn Herr Thierſch mit einer dem Intereſſe der Sache an- gemeſſnen Sorgfalt beachtet hätte, was Hirt über die Samiſche Künſtlerſchule und das Epheſiſche Heiligthum geſchrieben: ſo hätte er die Erbauer dieſes Heiligthums, zu welchem nach dem von Hirt mit Recht zum Grunde gelegten Herodotiſchen Zeugniß Kröſos die mei- ſten Säulen ſchenkte, gewiß nicht um den Anfang der Olympiaden ſetzen können (S. 137. 182), und ſeine Meinung von dem hohen Alterthum der Samiſchen Schule aufgeben oder ſehr modificiren müſſen, die ihn jetzt unter andern nöthigt, den Rheginer Learchos lange vor den Anfang der Olympiaden zu ſetzen (S. 47.), d. h. Jahrhunderte früher ehe die Chalkidier Rhegion gründeten. Hätte H. Th. die ihm nicht unbekannt gebliebne Abhandlung des Vf. de Phidiae vita einer größern Aufmerkſamkeit und einer ruhigern Er- wägung gewürdigt: ſo würde er, Anderes zu geſchweigen, dem Vf. nicht die Meinung zuſchreiben (S. 115), Phidias Geburtszeit treffe auf Ol. 70 (ſtatt 73), durch welche Veränderung freilich die übrigen Rechnungen des Vf. ohne deſſen Schuld in große Confu- ſion gerathen und leicht widerlegbar werden; er würde auch (S.
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andern guten Eigenſchaften der Griechen jene zurückhaltende Scho-
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nen Anſicht die Rechte des Andern im geiſtigen Verkehr zu kränken,
unter uns Nachfolge verdienen. Dies iſt es aber grade, was
an dieſer Polemik oft vermißt wird, die allgemeine Vorausſetzung,
daß der Gegner etwas Vernünftiges und Ueberlegtes ſage, die ru-
hige Erwägung ſeiner Behauptungen und Gründe, und das Be-
mühen ſie in ihrem Zuſammenhange richtig aufzufaſſen. Ein ſolches
Verfahren, wie wir es wohl von einander im gewöhnlichen geſelligen
Verkehr, um wie viel mehr im litterariſchen erwarten, in welchem
ſonſt ſich Mißverſtand auf Mißverſtand häuft, würde Herrn Thierſch
gewiß vor manchen Fehlgriffen behütet haben. Der Vf. will einige
Beiſpiele anführen, welche nicht äſthetiſche, ſondern hiſtoriſche Punkte
betreffen, worüber es doch im Ganzen leichter iſt ſich zu verſtän-
digen. Wenn Herr Thierſch mit einer dem Intereſſe der Sache an-
gemeſſnen Sorgfalt beachtet hätte, was Hirt über die Samiſche
Künſtlerſchule und das Epheſiſche Heiligthum geſchrieben: ſo hätte
er die Erbauer dieſes Heiligthums, zu welchem nach dem von Hirt mit
Recht zum Grunde gelegten Herodotiſchen Zeugniß Kröſos die mei-
ſten Säulen ſchenkte, gewiß nicht um den Anfang der Olympiaden
ſetzen können (S. 137. 182), und ſeine Meinung von dem hohen
Alterthum der Samiſchen Schule aufgeben oder ſehr modificiren
müſſen, die ihn jetzt unter andern nöthigt, den Rheginer Learchos
lange vor den Anfang der Olympiaden zu ſetzen (S. 47.), d. h.
Jahrhunderte früher ehe die Chalkidier Rhegion gründeten. Hätte
H. Th. die ihm nicht unbekannt gebliebne Abhandlung des Vf. de
Phidiae vita einer größern Aufmerkſamkeit und einer ruhigern Er-
wägung gewürdigt: ſo würde er, Anderes zu geſchweigen, dem Vf.
nicht die Meinung zuſchreiben (S. 115), Phidias Geburtszeit
treffe auf Ol. 70 (ſtatt 73), durch welche Veränderung freilich die
übrigen Rechnungen des Vf. ohne deſſen Schuld in große Confu-
ſion gerathen und leicht widerlegbar werden; er würde auch (S.
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 614. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/636>, abgerufen am 24.11.2024.
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