1364. Artemis die Jägerin (agrotera), welche aber oft mit gleichem Rechte als eine kämpfende Gottheit ge- dacht werden kann, wird in vortrefflichen Statuen theils in dem Moment, den Pfeil aus dem Köcher zu nehmen, um ihn abzusenden, theils auf dem Punkte ihn abzu- schießen, in besonders lebhafter Bewegung, dargestellt. 2Wenn sie im langen Gewande die Hand nach dem Kö- cher bewegt, ohne Zeichen von heftiger Bewegung, sanfte Anmuth in den Mienen, liegt die Vorstellung näher, daß sie ihn schließen, als daß sie ihn öffnen wolle, und man darf wahrscheinlich den Namen Soteira auf eine solche 3Artemis anwenden. Geschlossen sieht man den Köcher und den Bogen auf den Rücken zurückgeworfen in Re- liefs, wo Artemis als lebenverleihende Lichtgöttin (als phosphoros, selasphoros) mit Fackeln in beiden Händen einherschreitet, welche auch vielen mangelhaft erhaltnen Statuen durch Restauration wiederzugeben sein möchten. 4In alten Tempelbildern trug nicht selten Artemis sowohl den Bogen als die Fackel in der Hand, Licht und Todgebend 5zugleich. Die Jägerin Artemis ist zugleich eine Hege- rin und Pflegerin des Wildes, oft erscheint sie eine hei- lige Hirschkuh an sich heranziehend; auch ist in einem interessanten Bilde ihre Krone aus Rehbökken gebildet. 6Nur in kleinen Kunstwerken lassen sich nachweisen die Artemis Upis, eine Opfer und Sühnlieder fordernde Gottheit, welche durch die Geberde der Nemesis bezeich- 7net wird, und die Syrakusische Potamia, die vom Al- pheios herübergebrachte Flußgöttin, welche durch das Schilf in den Haaren und die Fische, die sie um- 8geben, ihre Verbindung mit dem Wasser anzeigt. Die meerbeherrschende Artemis ist wenigstens in der Gestalt, die sie in Leukadien hatte, bekannt.
1. Der erste Moment in der A. von Versailles, n. 178 im Louvre. Sehr schlank und zierlich, aber doch kräftig gebaut. Ne- ben ihr die elaphos keroessa. Auf dem Kopf eine Stephane. M. Franc. i, 2. Nap. i, 51. Bouill. i, 20. G. M. 34, 115. Eben so, Millin P. gr. 10. M. von Philadelphia,
Syſtematiſcher Theil.
1364. Artemis die Jaͤgerin (ἀγροτέρα), welche aber oft mit gleichem Rechte als eine kaͤmpfende Gottheit ge- dacht werden kann, wird in vortrefflichen Statuen theils in dem Moment, den Pfeil aus dem Koͤcher zu nehmen, um ihn abzuſenden, theils auf dem Punkte ihn abzu- ſchießen, in beſonders lebhafter Bewegung, dargeſtellt. 2Wenn ſie im langen Gewande die Hand nach dem Koͤ- cher bewegt, ohne Zeichen von heftiger Bewegung, ſanfte Anmuth in den Mienen, liegt die Vorſtellung naͤher, daß ſie ihn ſchließen, als daß ſie ihn oͤffnen wolle, und man darf wahrſcheinlich den Namen Σώτειρα auf eine ſolche 3Artemis anwenden. Geſchloſſen ſieht man den Koͤcher und den Bogen auf den Ruͤcken zuruͤckgeworfen in Re- liefs, wo Artemis als lebenverleihende Lichtgoͤttin (als φωσφόρος, σελασφόρος) mit Fackeln in beiden Haͤnden einherſchreitet, welche auch vielen mangelhaft erhaltnen Statuen durch Reſtauration wiederzugeben ſein moͤchten. 4In alten Tempelbildern trug nicht ſelten Artemis ſowohl den Bogen als die Fackel in der Hand, Licht und Todgebend 5zugleich. Die Jaͤgerin Artemis iſt zugleich eine Hege- rin und Pflegerin des Wildes, oft erſcheint ſie eine hei- lige Hirſchkuh an ſich heranziehend; auch iſt in einem intereſſanten Bilde ihre Krone aus Rehboͤkken gebildet. 6Nur in kleinen Kunſtwerken laſſen ſich nachweiſen die Artemis Upis, eine Opfer und Suͤhnlieder fordernde Gottheit, welche durch die Geberde der Nemeſis bezeich- 7net wird, und die Syrakuſiſche Potamia, die vom Al- pheios heruͤbergebrachte Flußgoͤttin, welche durch das Schilf in den Haaren und die Fiſche, die ſie um- 8geben, ihre Verbindung mit dem Waſſer anzeigt. Die meerbeherrſchende Artemis iſt wenigſtens in der Geſtalt, die ſie in Leukadien hatte, bekannt.
1. Der erſte Moment in der A. von Verſailles, n. 178 im Louvre. Sehr ſchlank und zierlich, aber doch kräftig gebaut. Ne- ben ihr die ἔλαφος κερόεσσα. Auf dem Kopf eine Stephane. M. Franc. i, 2. Nap. i, 51. Bouill. i, 20. G. M. 34, 115. Eben ſo, Millin P. gr. 10. M. von Philadelphia,
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Syſtematiſcher Theil.
364. Artemis die Jaͤgerin (ἀγροτέρα), welche aber
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dacht werden kann, wird in vortrefflichen Statuen theils
in dem Moment, den Pfeil aus dem Koͤcher zu nehmen,
um ihn abzuſenden, theils auf dem Punkte ihn abzu-
ſchießen, in beſonders lebhafter Bewegung, dargeſtellt.
Wenn ſie im langen Gewande die Hand nach dem Koͤ-
cher bewegt, ohne Zeichen von heftiger Bewegung, ſanfte
Anmuth in den Mienen, liegt die Vorſtellung naͤher, daß
ſie ihn ſchließen, als daß ſie ihn oͤffnen wolle, und man
darf wahrſcheinlich den Namen Σώτειρα auf eine ſolche
Artemis anwenden. Geſchloſſen ſieht man den Koͤcher
und den Bogen auf den Ruͤcken zuruͤckgeworfen in Re-
liefs, wo Artemis als lebenverleihende Lichtgoͤttin (als
φωσφόρος, σελασφόρος) mit Fackeln in beiden Haͤnden
einherſchreitet, welche auch vielen mangelhaft erhaltnen
Statuen durch Reſtauration wiederzugeben ſein moͤchten.
In alten Tempelbildern trug nicht ſelten Artemis ſowohl
den Bogen als die Fackel in der Hand, Licht und Todgebend
zugleich. Die Jaͤgerin Artemis iſt zugleich eine Hege-
rin und Pflegerin des Wildes, oft erſcheint ſie eine hei-
lige Hirſchkuh an ſich heranziehend; auch iſt in einem
intereſſanten Bilde ihre Krone aus Rehboͤkken gebildet.
Nur in kleinen Kunſtwerken laſſen ſich nachweiſen die
Artemis Upis, eine Opfer und Suͤhnlieder fordernde
Gottheit, welche durch die Geberde der Nemeſis bezeich-
net wird, und die Syrakuſiſche Potamia, die vom Al-
pheios heruͤbergebrachte Flußgoͤttin, welche durch das
Schilf in den Haaren und die Fiſche, die ſie um-
geben, ihre Verbindung mit dem Waſſer anzeigt. Die
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die ſie in Leukadien hatte, bekannt.
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ben ihr die ἔλαφος κερόεσσα. Auf dem Kopf eine Stephane.
M. Franc. i, 2. Nap. i, 51. Bouill. i, 20. G. M. 34,
115. Eben ſo, Millin P. gr. 10. M. von Philadelphia,
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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/496>, abgerufen am 22.11.2024.
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