Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

Systematischer Theil.
Wulst, an Gesimsen der Gebälke und Pilaster; wovon besonders
die Uned. antiq. of Attica deutliche Anschauungen gewähren.


3. Die Architekturstücke.

1275. Die Architekturstücke sind nicht mehr allgemeine
geometrische Formen, sondern Zusammensetzungen dersel-
ben, welche schon die bestimmte Richtung auf architekto-
nische Zwecke in sich tragen, aber sie doch im Allgemei-
nen erst in ihrer Vereinigung erfüllen. Sie zerfallen
2in tragende, getragne und in der Mitte stehende. Un-
ter den tragenden ist die Säule die natürlich ge-
gebne Form, wo einzelne Punkte auf möglichst sichre und
dauerhafte Weise zu unterstützen sind, welche alsdann
durch die Cohärenz der Masse das Dazwischenliegende
halten und tragen. Die Säule ist ein völlig in sich ge-
schlossener, eine verticale Achse umschließender, einerseits
durch die conische Form, oder Verjüngung (contrac-
tura
), seine eigne Festigkeit sichernder, andererseits durch
die viereckige Platte der Form des Gebälks sich annä-
3hernder Träger. Diese Bestimmung und Bedeutung
drückt am klarsten und reinsten die Dorische Säule
(§. 52.) aus, am kraftvollsten in den ältesten Formen.
In der Jonischen (§. 54.) tritt ein Bestreben zu zie-
ren ein, welches indeß die geometrischen und im Kreise
der Architektur gegebnen Formen noch nicht verläßt. In
der Korinthischen (§. 108. 153.) greift dies Bestre-
ben zu schmücken in das Reich der Vegetation hinüber.
Jedes Capitäl nimmt aber das vorige in sich auf, und
entwickelt sich mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit und dem
durchgängigen Bestreben, Nichts ohne Noth aufzuopfern,
aus demselben.

3. Das Jonische Capitäl ist das Dorische, über dessen Echinus
ein Aufsatz gefügt wird, der wahrscheinlich von Altären hergenom-
men ist. Im Korinthischen überwachsen dies Jonische Volutenca-

Syſtematiſcher Theil.
Wulſt, an Geſimſen der Gebälke und Pilaſter; wovon beſonders
die Uned. antiq. of Attica deutliche Anſchauungen gewähren.


3. Die Architekturſtuͤcke.

1275. Die Architekturſtuͤcke ſind nicht mehr allgemeine
geometriſche Formen, ſondern Zuſammenſetzungen derſel-
ben, welche ſchon die beſtimmte Richtung auf architekto-
niſche Zwecke in ſich tragen, aber ſie doch im Allgemei-
nen erſt in ihrer Vereinigung erfuͤllen. Sie zerfallen
2in tragende, getragne und in der Mitte ſtehende. Un-
ter den tragenden iſt die Saͤule die natuͤrlich ge-
gebne Form, wo einzelne Punkte auf moͤglichſt ſichre und
dauerhafte Weiſe zu unterſtuͤtzen ſind, welche alsdann
durch die Cohaͤrenz der Maſſe das Dazwiſchenliegende
halten und tragen. Die Saͤule iſt ein voͤllig in ſich ge-
ſchloſſener, eine verticale Achſe umſchließender, einerſeits
durch die coniſche Form, oder Verjuͤngung (contrac-
tura
), ſeine eigne Feſtigkeit ſichernder, andererſeits durch
die viereckige Platte der Form des Gebaͤlks ſich annaͤ-
3hernder Traͤger. Dieſe Beſtimmung und Bedeutung
druͤckt am klarſten und reinſten die Doriſche Saͤule
(§. 52.) aus, am kraftvollſten in den aͤlteſten Formen.
In der Joniſchen (§. 54.) tritt ein Beſtreben zu zie-
ren ein, welches indeß die geometriſchen und im Kreiſe
der Architektur gegebnen Formen noch nicht verlaͤßt. In
der Korinthiſchen (§. 108. 153.) greift dies Beſtre-
ben zu ſchmuͤcken in das Reich der Vegetation hinuͤber.
Jedes Capitaͤl nimmt aber das vorige in ſich auf, und
entwickelt ſich mit einer gewiſſen Geſetzmaͤßigkeit und dem
durchgaͤngigen Beſtreben, Nichts ohne Noth aufzuopfern,
aus demſelben.

3. Das Joniſche Capitäl iſt das Doriſche, über deſſen Echinus
ein Aufſatz gefügt wird, der wahrſcheinlich von Altären hergenom-
men iſt. Im Korinthiſchen überwachſen dies Joniſche Volutenca-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0344" n="322"/><fw place="top" type="header">Sy&#x017F;temati&#x017F;cher Theil.</fw><lb/>
Wul&#x017F;t, an Ge&#x017F;im&#x017F;en der Gebälke und Pila&#x017F;ter; wovon be&#x017F;onders<lb/>
die <hi rendition="#aq">Uned. antiq. of Attica</hi> deutliche An&#x017F;chauungen gewähren.</p>
              </div><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
              <div n="5">
                <head>3. Die Architektur&#x017F;tu&#x0364;cke.</head><lb/>
                <p><note place="left">1</note>275. Die Architektur&#x017F;tu&#x0364;cke &#x017F;ind nicht mehr allgemeine<lb/>
geometri&#x017F;che Formen, &#x017F;ondern Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzungen der&#x017F;el-<lb/>
ben, welche &#x017F;chon die be&#x017F;timmte Richtung auf architekto-<lb/>
ni&#x017F;che Zwecke in &#x017F;ich tragen, aber &#x017F;ie doch im Allgemei-<lb/>
nen er&#x017F;t in ihrer Vereinigung erfu&#x0364;llen. Sie zerfallen<lb/><note place="left">2</note>in tragende, getragne und in der Mitte &#x017F;tehende. Un-<lb/>
ter den <hi rendition="#g">tragenden</hi> i&#x017F;t die <hi rendition="#g">Sa&#x0364;ule</hi> die natu&#x0364;rlich ge-<lb/>
gebne Form, wo einzelne Punkte auf mo&#x0364;glich&#x017F;t &#x017F;ichre und<lb/>
dauerhafte Wei&#x017F;e zu unter&#x017F;tu&#x0364;tzen &#x017F;ind, welche alsdann<lb/>
durch die Coha&#x0364;renz der Ma&#x017F;&#x017F;e das Dazwi&#x017F;chenliegende<lb/>
halten und tragen. Die Sa&#x0364;ule i&#x017F;t ein vo&#x0364;llig in &#x017F;ich ge-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ener, eine verticale Ach&#x017F;e um&#x017F;chließender, einer&#x017F;eits<lb/>
durch die coni&#x017F;che Form, oder Verju&#x0364;ngung (<hi rendition="#aq">contrac-<lb/>
tura</hi>), &#x017F;eine eigne Fe&#x017F;tigkeit &#x017F;ichernder, anderer&#x017F;eits durch<lb/>
die viereckige Platte der Form des Geba&#x0364;lks &#x017F;ich anna&#x0364;-<lb/><note place="left">3</note>hernder <hi rendition="#g">Tra&#x0364;ger</hi>. Die&#x017F;e Be&#x017F;timmung und Bedeutung<lb/>
dru&#x0364;ckt am klar&#x017F;ten und rein&#x017F;ten die <hi rendition="#g">Dori&#x017F;che</hi> Sa&#x0364;ule<lb/>
(§. 52.) aus, am kraftvoll&#x017F;ten in den a&#x0364;lte&#x017F;ten Formen.<lb/>
In der <hi rendition="#g">Joni&#x017F;chen</hi> (§. 54.) tritt ein Be&#x017F;treben zu zie-<lb/>
ren ein, welches indeß die geometri&#x017F;chen und im Krei&#x017F;e<lb/>
der Architektur gegebnen Formen noch nicht verla&#x0364;ßt. In<lb/>
der <hi rendition="#g">Korinthi&#x017F;chen</hi> (§. 108. 153.) greift dies Be&#x017F;tre-<lb/>
ben zu &#x017F;chmu&#x0364;cken in das Reich der Vegetation hinu&#x0364;ber.<lb/>
Jedes Capita&#x0364;l nimmt aber das vorige in &#x017F;ich auf, und<lb/>
entwickelt &#x017F;ich mit einer gewi&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;etzma&#x0364;ßigkeit und dem<lb/>
durchga&#x0364;ngigen Be&#x017F;treben, Nichts ohne Noth aufzuopfern,<lb/>
aus dem&#x017F;elben.</p><lb/>
                <p>3. Das Joni&#x017F;che Capitäl i&#x017F;t das Dori&#x017F;che, über de&#x017F;&#x017F;en Echinus<lb/>
ein Auf&#x017F;atz gefügt wird, der wahr&#x017F;cheinlich von Altären hergenom-<lb/>
men i&#x017F;t. Im Korinthi&#x017F;chen überwach&#x017F;en dies Joni&#x017F;che Volutenca-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0344] Syſtematiſcher Theil. Wulſt, an Geſimſen der Gebälke und Pilaſter; wovon beſonders die Uned. antiq. of Attica deutliche Anſchauungen gewähren. 3. Die Architekturſtuͤcke. 275. Die Architekturſtuͤcke ſind nicht mehr allgemeine geometriſche Formen, ſondern Zuſammenſetzungen derſel- ben, welche ſchon die beſtimmte Richtung auf architekto- niſche Zwecke in ſich tragen, aber ſie doch im Allgemei- nen erſt in ihrer Vereinigung erfuͤllen. Sie zerfallen in tragende, getragne und in der Mitte ſtehende. Un- ter den tragenden iſt die Saͤule die natuͤrlich ge- gebne Form, wo einzelne Punkte auf moͤglichſt ſichre und dauerhafte Weiſe zu unterſtuͤtzen ſind, welche alsdann durch die Cohaͤrenz der Maſſe das Dazwiſchenliegende halten und tragen. Die Saͤule iſt ein voͤllig in ſich ge- ſchloſſener, eine verticale Achſe umſchließender, einerſeits durch die coniſche Form, oder Verjuͤngung (contrac- tura), ſeine eigne Feſtigkeit ſichernder, andererſeits durch die viereckige Platte der Form des Gebaͤlks ſich annaͤ- hernder Traͤger. Dieſe Beſtimmung und Bedeutung druͤckt am klarſten und reinſten die Doriſche Saͤule (§. 52.) aus, am kraftvollſten in den aͤlteſten Formen. In der Joniſchen (§. 54.) tritt ein Beſtreben zu zie- ren ein, welches indeß die geometriſchen und im Kreiſe der Architektur gegebnen Formen noch nicht verlaͤßt. In der Korinthiſchen (§. 108. 153.) greift dies Beſtre- ben zu ſchmuͤcken in das Reich der Vegetation hinuͤber. Jedes Capitaͤl nimmt aber das vorige in ſich auf, und entwickelt ſich mit einer gewiſſen Geſetzmaͤßigkeit und dem durchgaͤngigen Beſtreben, Nichts ohne Noth aufzuopfern, aus demſelben. 1 2 3 3. Das Joniſche Capitäl iſt das Doriſche, über deſſen Echinus ein Aufſatz gefügt wird, der wahrſcheinlich von Altären hergenom- men iſt. Im Korinthiſchen überwachſen dies Joniſche Volutenca-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/344
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/344>, abgerufen am 22.12.2024.