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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Einleitung
und die organische mit der Vorstellung des Lebens eng-
verbundene Körperform.

1. Die Zeit entspricht der Linie im Raum, abgesehen von deren
besonderer Richtung und Wendung, also einem äußerlich Undar-
stellbaren.

2. Unter dem Organischen im weitern Sinn wird das Vegeta-
tive mitbegriffen.

122. Die geometrische Form kann unläugbar auch
an sich Kunstgesetzen gemäß ausgebildet und zur Kunst-
form werden, indeß erscheint diese Gattung von Kunst-
formen aus Gründen, die im Verhältniß der Kunst zum
übrigen Leben der Menschen und Völker liegen, fast nie
unabhängig, sondern an ein zweckerfüllendes (§. 1, 2.)
einem bestimmten Lebensbedürfnisse genügendes Schaffen
2gebunden. Hieraus geht eine Reihe von Künsten hervor,
welche Geräthe, Gefäße, Wohnungen und Versammlungs-
orte der Menschen zwar einerseits nach ihrer Zweckbestim-
mung, aber andrerseits in Gemäßheit von Gefühlen und
3Kunstideen gestalten und ausbilden. Wir nennen diese
Reihe gemischter Thätigkeiten Tektonik; ihr Gipfel
ist die Architektonik, welche am meisten vom Be-
dürfniß sich emporschwingen und zu einer machtvollen Dar-
stellung tiefer Empfindungen werden kann.

3. In manchen Gebäuden für den Cultus (gothischen Thür-
men) ist das Bedürfniß (des Glockenstuhls) nur der Anlaß, und
die Phantasie erscheint in der Zusammensetzung geometrischer For-
men fast freischaffend. Sobald aber die Architektur die geome-
trisch construirbare Figur verläßt, eignet sie sich schon eine fremde
Kunst an, wie in vegetabilischen und animalischen Zierathen. --
Die Gartenkunst kann man eine Anwendung der Architektur auf
das vegetabilische Leben nennen.

123. Der eigenthümliche Charakter dieser Künste be-
ruht auf der Vereinigung der Zweckmäßigkeit mit
der künstlerischen Darstellung, zweier Prinzipien,
die in den einfachsten Werken der Art noch ganz in ein-

Einleitung
und die organiſche mit der Vorſtellung des Lebens eng-
verbundene Koͤrperform.

1. Die Zeit entſpricht der Linie im Raum, abgeſehen von deren
beſonderer Richtung und Wendung, alſo einem äußerlich Undar-
ſtellbaren.

2. Unter dem Organiſchen im weitern Sinn wird das Vegeta-
tive mitbegriffen.

122. Die geometriſche Form kann unlaͤugbar auch
an ſich Kunſtgeſetzen gemaͤß ausgebildet und zur Kunſt-
form werden, indeß erſcheint dieſe Gattung von Kunſt-
formen aus Gruͤnden, die im Verhaͤltniß der Kunſt zum
uͤbrigen Leben der Menſchen und Voͤlker liegen, faſt nie
unabhaͤngig, ſondern an ein zweckerfuͤllendes (§. 1, 2.)
einem beſtimmten Lebensbeduͤrfniſſe genuͤgendes Schaffen
2gebunden. Hieraus geht eine Reihe von Kuͤnſten hervor,
welche Geraͤthe, Gefaͤße, Wohnungen und Verſammlungs-
orte der Menſchen zwar einerſeits nach ihrer Zweckbeſtim-
mung, aber andrerſeits in Gemaͤßheit von Gefuͤhlen und
3Kunſtideen geſtalten und ausbilden. Wir nennen dieſe
Reihe gemiſchter Thaͤtigkeiten Tektonik; ihr Gipfel
iſt die Architektonik, welche am meiſten vom Be-
duͤrfniß ſich emporſchwingen und zu einer machtvollen Dar-
ſtellung tiefer Empfindungen werden kann.

3. In manchen Gebäuden für den Cultus (gothiſchen Thür-
men) iſt das Bedürfniß (des Glockenſtuhls) nur der Anlaß, und
die Phantaſie erſcheint in der Zuſammenſetzung geometriſcher For-
men faſt freiſchaffend. Sobald aber die Architektur die geome-
triſch conſtruirbare Figur verläßt, eignet ſie ſich ſchon eine fremde
Kunſt an, wie in vegetabiliſchen und animaliſchen Zierathen. —
Die Gartenkunſt kann man eine Anwendung der Architektur auf
das vegetabiliſche Leben nennen.

123. Der eigenthuͤmliche Charakter dieſer Kuͤnſte be-
ruht auf der Vereinigung der Zweckmaͤßigkeit mit
der kuͤnſtleriſchen Darſtellung, zweier Prinzipien,
die in den einfachſten Werken der Art noch ganz in ein-

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[10/0032] Einleitung und die organiſche mit der Vorſtellung des Lebens eng- verbundene Koͤrperform. 1. Die Zeit entſpricht der Linie im Raum, abgeſehen von deren beſonderer Richtung und Wendung, alſo einem äußerlich Undar- ſtellbaren. 2. Unter dem Organiſchen im weitern Sinn wird das Vegeta- tive mitbegriffen. 22. Die geometriſche Form kann unlaͤugbar auch an ſich Kunſtgeſetzen gemaͤß ausgebildet und zur Kunſt- form werden, indeß erſcheint dieſe Gattung von Kunſt- formen aus Gruͤnden, die im Verhaͤltniß der Kunſt zum uͤbrigen Leben der Menſchen und Voͤlker liegen, faſt nie unabhaͤngig, ſondern an ein zweckerfuͤllendes (§. 1, 2.) einem beſtimmten Lebensbeduͤrfniſſe genuͤgendes Schaffen gebunden. Hieraus geht eine Reihe von Kuͤnſten hervor, welche Geraͤthe, Gefaͤße, Wohnungen und Verſammlungs- orte der Menſchen zwar einerſeits nach ihrer Zweckbeſtim- mung, aber andrerſeits in Gemaͤßheit von Gefuͤhlen und Kunſtideen geſtalten und ausbilden. Wir nennen dieſe Reihe gemiſchter Thaͤtigkeiten Tektonik; ihr Gipfel iſt die Architektonik, welche am meiſten vom Be- duͤrfniß ſich emporſchwingen und zu einer machtvollen Dar- ſtellung tiefer Empfindungen werden kann. 1 2 3 3. In manchen Gebäuden für den Cultus (gothiſchen Thür- men) iſt das Bedürfniß (des Glockenſtuhls) nur der Anlaß, und die Phantaſie erſcheint in der Zuſammenſetzung geometriſcher For- men faſt freiſchaffend. Sobald aber die Architektur die geome- triſch conſtruirbare Figur verläßt, eignet ſie ſich ſchon eine fremde Kunſt an, wie in vegetabiliſchen und animaliſchen Zierathen. — Die Gartenkunſt kann man eine Anwendung der Architektur auf das vegetabiliſche Leben nennen. 23. Der eigenthuͤmliche Charakter dieſer Kuͤnſte be- ruht auf der Vereinigung der Zweckmaͤßigkeit mit der kuͤnſtleriſchen Darſtellung, zweier Prinzipien, die in den einfachſten Werken der Art noch ganz in ein- 1

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/32>, abgerufen am 24.11.2024.