gewandt 1. So ist es auch gekommen, daß die Dorier unter allen Griechenstämmen das althellenische Leben am treusten bewahrten und am reinsten darstellten 2. Alle Fortschritte waren bei ihnen stetig, und die Ver- änderungen des Zustands fast unmerklich. -- Mit jenem Streben nach Einheit im Ganzen ist der Sinn für das Maaß in jeder Beziehung verwandt. Auch der Kunst wird durchaus das strengste Maaß auferlegt, und jede üppige Ranke mit schonungslosem Messer abge- schnitten 3. Die Dorische Lebenssitte befiehlt Maaß- haltung in jeglichem Thun; darin besteht die Sophro- syne 4. Eine Hauptabsicht des Apollinischen Cultus war, das ruhige Gleichgewicht des Gemüths zu er- halten, und alles Sinnzerrüttende, zum Taumel Auf- regende, die innre Klarheit Verdunkelnde zu entfernen 5. Der Dorische Sinn will überall eine reine und klare Harmonie, die auch im kleinsten harmonisch fei 6. Dissonanzen, wenn sie auch in Harmonie auf- gelöst werden, sind nicht dem Geschmacke des Volk- stammes gemäß. Die Harmonie muß ihren völligen Schluß haben, und nicht das Unendliche offen lassen. Die nationalen Melodien waren gewiß in Dur und nicht in Moll; der allgemeine Accent der Sprache trug das Gepräge des Befehls oder des Apophthegma, nicht der Frage oder Bitte. Die Befriedigung des Daseins verdrängt fast die Sehnsucht, und das Vertrauen auf die Quelle dieses Daseins, die Gottheit, gänzlich die weiche Klage. Das Streben ins Schran- kenlose, Endlose wird möglichst abgeschnitten. Der Blick ist nicht auf das Werden, sondern auf das
1 Bd. 3. S. 7.
2 S. 260. 273. 316.
3 S. 381.
4 S. 19.
5 Bd. 2. S. 326. 343. 366.
6 Bd. 2. S. 342. 3. S. 319.
gewandt 1. So iſt es auch gekommen, daß die Dorier unter allen Griechenſtaͤmmen das althelleniſche Leben am treuſten bewahrten und am reinſten darſtellten 2. Alle Fortſchritte waren bei ihnen ſtetig, und die Ver- aͤnderungen des Zuſtands faſt unmerklich. — Mit jenem Streben nach Einheit im Ganzen iſt der Sinn fuͤr das Maaß in jeder Beziehung verwandt. Auch der Kunſt wird durchaus das ſtrengſte Maaß auferlegt, und jede uͤppige Ranke mit ſchonungsloſem Meſſer abge- ſchnitten 3. Die Doriſche Lebensſitte befiehlt Maaß- haltung in jeglichem Thun; darin beſteht die Sophro- ſyne 4. Eine Hauptabſicht des Apolliniſchen Cultus war, das ruhige Gleichgewicht des Gemuͤths zu er- halten, und alles Sinnzerruͤttende, zum Taumel Auf- regende, die innre Klarheit Verdunkelnde zu entfernen 5. Der Doriſche Sinn will uͤberall eine reine und klare Harmonie, die auch im kleinſten harmoniſch fei 6. Diſſonanzen, wenn ſie auch in Harmonie auf- geloͤst werden, ſind nicht dem Geſchmacke des Volk- ſtammes gemaͤß. Die Harmonie muß ihren voͤlligen Schluß haben, und nicht das Unendliche offen laſſen. Die nationalen Melodien waren gewiß in Dur und nicht in Moll; der allgemeine Accent der Sprache trug das Gepraͤge des Befehls oder des Apophthegma, nicht der Frage oder Bitte. Die Befriedigung des Daſeins verdraͤngt faſt die Sehnſucht, und das Vertrauen auf die Quelle dieſes Daſeins, die Gottheit, gaͤnzlich die weiche Klage. Das Streben ins Schran- kenloſe, Endloſe wird moͤglichſt abgeſchnitten. Der Blick iſt nicht auf das Werden, ſondern auf das
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2 S. 260. 273. 316.
3 S. 381.
4 S. 19.
5 Bd. 2. S. 326. 343. 366.
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Alle Fortſchritte waren bei ihnen ſtetig, und die Ver-
aͤnderungen des Zuſtands faſt unmerklich. — Mit jenem
Streben nach Einheit im Ganzen iſt der Sinn fuͤr
das Maaß in jeder Beziehung verwandt. Auch der
Kunſt wird durchaus das ſtrengſte Maaß auferlegt, und
jede uͤppige Ranke mit ſchonungsloſem Meſſer abge-
ſchnitten 3. Die Doriſche Lebensſitte befiehlt Maaß-
haltung in jeglichem Thun; darin beſteht die Sophro-
ſyne 4. Eine Hauptabſicht des Apolliniſchen Cultus
war, das ruhige Gleichgewicht des Gemuͤths zu er-
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Der Doriſche Sinn will uͤberall eine reine und
klare Harmonie, die auch im kleinſten harmoniſch
fei 6. Diſſonanzen, wenn ſie auch in Harmonie auf-
geloͤst werden, ſind nicht dem Geſchmacke des Volk-
ſtammes gemaͤß. Die Harmonie muß ihren voͤlligen
Schluß haben, und nicht das Unendliche offen laſſen.
Die nationalen Melodien waren gewiß in Dur und
nicht in Moll; der allgemeine Accent der Sprache
trug das Gepraͤge des Befehls oder des Apophthegma,
nicht der Frage oder Bitte. Die Befriedigung
des Daſeins verdraͤngt faſt die Sehnſucht, und das
Vertrauen auf die Quelle dieſes Daſeins, die Gottheit,
gaͤnzlich die weiche Klage. Das Streben ins Schran-
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Blick iſt nicht auf das Werden, ſondern auf das
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2 S. 260. 273. 316.
3 S. 381.
4 S. 19.
5 Bd. 2. S. 326. 343. 366.
6 Bd. 2. S.
342. 3. S. 319.
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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/411>, abgerufen am 24.11.2024.
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