Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

bild des Lebens und Handelns 1; wodurch es begreif-
lich wird, wie für manche Vergehungen, namentlich
für Mangel an Ehrliebe, der Eispnele gestraft werden
konnte anstatt des Aitas 2.

7.

Noch charakteristischer hatte sich die alte Na-
tionalsitte in Kreta ausgebildet, daher diese Insel
auch von Manchen als die Mutter der Knabenliebe be-
trachtet wurde 3. Auch hier entbehrte ein wohlgebil-
deter Knabe nicht ohne einen gewissen Schimpf eines
Liebenden 4; eben deswegen hieß der Geliebte kleinos,
der Belobte 5; der Liebende einfach philetor. Wie
innig aber das Verhältniß, geht daraus hervor, daß
es in manchen Stücken Nachbildung des ehelichen.
Wie die Bräute in Lakedämon, so wurden hier die
Knaben geraubt 6. Der Raub wurde, wenigstens
drei Tage vorher, den Blutsfreunden des Knaben an-
gekündigt, die ihn indeß ganz unbesorgt die gewohnten
Wege gehen ließen, und auch beim Raube nur schein-
bar widerstanden: ausgenommen, wenn der Raubende
an Geschlecht oder persönlicher Eigenschaft des Knaben
unwürdig schien. Dieser führte ihn nun zunächst nach
seinem Andreion, und dann mit den zufällig zusam-
mengekommnen Begleitern in das Gebirg oder auf sein
Landgut. Hier behielt er ihn zwei Monate -- länger
war nicht erlaubt -- bei sich, welche Zeit meist unter
gemeinschaftlichen Jagden verging. Nach Verlauf der-

1 Vgl. Plut. Lak. Ap. p. 209. Auch in Böotien aner kai
pais suzugentes omilousin, Xen. Lak. Staat 2, 12.
2 Plut.
Lyk. 18. Ael. 3, 10.
3 Athen. 13, 601 e. 602 f. aus Ti-
mäos. Herakl. Pont. 3. Heyne ad Apolld. 3, 1, 2. Kr. ero-
tikotatoi neben Laked. und Böotern, Plut. Erot. 17. p. 37.
4 Ath. 11, 782 e.
5 Ephoros bei Str. 10, 483 c. He-
sych. s. v. philetor.
6 Ephor. a. O. vgl. Plut. de educ. 14.

bild des Lebens und Handelns 1; wodurch es begreif-
lich wird, wie fuͤr manche Vergehungen, namentlich
fuͤr Mangel an Ehrliebe, der Eispnele geſtraft werden
konnte anſtatt des Aitas 2.

7.

Noch charakteriſtiſcher hatte ſich die alte Na-
tionalſitte in Kreta ausgebildet, daher dieſe Inſel
auch von Manchen als die Mutter der Knabenliebe be-
trachtet wurde 3. Auch hier entbehrte ein wohlgebil-
deter Knabe nicht ohne einen gewiſſen Schimpf eines
Liebenden 4; eben deswegen hieß der Geliebte κλεινὸς,
der Belobte 5; der Liebende einfach φιλήτωρ. Wie
innig aber das Verhaͤltniß, geht daraus hervor, daß
es in manchen Stuͤcken Nachbildung des ehelichen.
Wie die Braͤute in Lakedaͤmon, ſo wurden hier die
Knaben geraubt 6. Der Raub wurde, wenigſtens
drei Tage vorher, den Blutsfreunden des Knaben an-
gekuͤndigt, die ihn indeß ganz unbeſorgt die gewohnten
Wege gehen ließen, und auch beim Raube nur ſchein-
bar widerſtanden: ausgenommen, wenn der Raubende
an Geſchlecht oder perſoͤnlicher Eigenſchaft des Knaben
unwuͤrdig ſchien. Dieſer fuͤhrte ihn nun zunaͤchſt nach
ſeinem Andreion, und dann mit den zufaͤllig zuſam-
mengekommnen Begleitern in das Gebirg oder auf ſein
Landgut. Hier behielt er ihn zwei Monate — laͤnger
war nicht erlaubt — bei ſich, welche Zeit meiſt unter
gemeinſchaftlichen Jagden verging. Nach Verlauf der-

1 Vgl. Plut. Lak. Ap. p. 209. Auch in Boͤotien ἀνὴϱ καὶ
παῖς συζυγέντες ὁμιλοῦσιν, Xen. Lak. Staat 2, 12.
2 Plut.
Lyk. 18. Ael. 3, 10.
3 Athen. 13, 601 e. 602 f. aus Ti-
maͤos. Herakl. Pont. 3. Heyne ad Apolld. 3, 1, 2. Κϱ. ἐϱω-
τικώτατοι neben Laked. und Boͤotern, Plut. Erot. 17. p. 37.
4 Ath. 11, 782 e.
5 Ephoros bei Str. 10, 483 c. He-
ſych. s. v. φιλήτωϱ.
6 Ephor. a. O. vgl. Plut. de educ. 14.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0298" n="292"/>
bild des Lebens und Handelns <note place="foot" n="1">Vgl. Plut. Lak. Ap. <hi rendition="#aq">p.</hi> 209. Auch in Bo&#x0364;otien &#x1F00;&#x03BD;&#x1F74;&#x03F1; &#x03BA;&#x03B1;&#x1F76;<lb/>
&#x03C0;&#x03B1;&#x1FD6;&#x03C2; &#x03C3;&#x03C5;&#x03B6;&#x03C5;&#x03B3;&#x03AD;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C2; &#x1F41;&#x03BC;&#x03B9;&#x03BB;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BD;, Xen. Lak. Staat 2, 12.</note>; wodurch es begreif-<lb/>
lich wird, wie fu&#x0364;r manche Vergehungen, namentlich<lb/>
fu&#x0364;r Mangel an Ehrliebe, der Eispnele ge&#x017F;traft werden<lb/>
konnte an&#x017F;tatt des Aitas <note place="foot" n="2">Plut.<lb/>
Lyk. 18. Ael. 3, 10.</note>.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>7.</head><lb/>
            <p>Noch charakteri&#x017F;ti&#x017F;cher hatte &#x017F;ich die alte Na-<lb/>
tional&#x017F;itte in <hi rendition="#g">Kreta</hi> ausgebildet, daher die&#x017F;e In&#x017F;el<lb/>
auch von Manchen als die Mutter der Knabenliebe be-<lb/>
trachtet wurde <note place="foot" n="3">Athen. 13, 601 <hi rendition="#aq">e. 602 f.</hi> aus Ti-<lb/>
ma&#x0364;os. Herakl. Pont. 3. Heyne <hi rendition="#aq">ad Apolld.</hi> 3, 1, 2. &#x039A;&#x03F1;. &#x1F10;&#x03F1;&#x03C9;-<lb/>
&#x03C4;&#x03B9;&#x03BA;&#x03CE;&#x03C4;&#x03B1;&#x03C4;&#x03BF;&#x03B9; neben Laked. und Bo&#x0364;otern, Plut. Erot. 17. <hi rendition="#aq">p.</hi> 37.</note>. Auch hier entbehrte ein wohlgebil-<lb/>
deter Knabe nicht ohne einen gewi&#x017F;&#x017F;en Schimpf eines<lb/>
Liebenden <note place="foot" n="4">Ath. 11, 782 <hi rendition="#aq">e.</hi></note>; eben deswegen hieß der Geliebte &#x03BA;&#x03BB;&#x03B5;&#x03B9;&#x03BD;&#x1F78;&#x03C2;,<lb/>
der Belobte <note place="foot" n="5">Ephoros bei Str. 10, 483 <hi rendition="#aq">c.</hi> He-<lb/>
&#x017F;ych. <hi rendition="#aq">s. v.</hi> &#x03C6;&#x03B9;&#x03BB;&#x03AE;&#x03C4;&#x03C9;&#x03F1;.</note>; der Liebende einfach &#x03C6;&#x03B9;&#x03BB;&#x03AE;&#x03C4;&#x03C9;&#x03C1;. Wie<lb/>
innig aber das Verha&#x0364;ltniß, geht daraus hervor, daß<lb/>
es in manchen Stu&#x0364;cken Nachbildung des ehelichen.<lb/>
Wie die Bra&#x0364;ute in Lakeda&#x0364;mon, &#x017F;o wurden hier die<lb/>
Knaben <hi rendition="#g">geraubt</hi> <note place="foot" n="6">Ephor. a. O. vgl. Plut. <hi rendition="#aq">de educ.</hi> 14.</note>. Der Raub wurde, wenig&#x017F;tens<lb/>
drei Tage vorher, den Blutsfreunden des Knaben an-<lb/>
geku&#x0364;ndigt, die ihn indeß ganz unbe&#x017F;orgt die gewohnten<lb/>
Wege gehen ließen, und auch beim Raube nur &#x017F;chein-<lb/>
bar wider&#x017F;tanden: ausgenommen, wenn der Raubende<lb/>
an Ge&#x017F;chlecht oder per&#x017F;o&#x0364;nlicher Eigen&#x017F;chaft des Knaben<lb/>
unwu&#x0364;rdig &#x017F;chien. Die&#x017F;er fu&#x0364;hrte ihn nun zuna&#x0364;ch&#x017F;t nach<lb/>
&#x017F;einem Andreion, und dann mit den zufa&#x0364;llig zu&#x017F;am-<lb/>
mengekommnen Begleitern in das Gebirg oder auf &#x017F;ein<lb/>
Landgut. Hier behielt er ihn zwei Monate &#x2014; la&#x0364;nger<lb/>
war nicht erlaubt &#x2014; bei &#x017F;ich, welche Zeit mei&#x017F;t unter<lb/>
gemein&#x017F;chaftlichen Jagden verging. Nach Verlauf der-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[292/0298] bild des Lebens und Handelns 1; wodurch es begreif- lich wird, wie fuͤr manche Vergehungen, namentlich fuͤr Mangel an Ehrliebe, der Eispnele geſtraft werden konnte anſtatt des Aitas 2. 7. Noch charakteriſtiſcher hatte ſich die alte Na- tionalſitte in Kreta ausgebildet, daher dieſe Inſel auch von Manchen als die Mutter der Knabenliebe be- trachtet wurde 3. Auch hier entbehrte ein wohlgebil- deter Knabe nicht ohne einen gewiſſen Schimpf eines Liebenden 4; eben deswegen hieß der Geliebte κλεινὸς, der Belobte 5; der Liebende einfach φιλήτωρ. Wie innig aber das Verhaͤltniß, geht daraus hervor, daß es in manchen Stuͤcken Nachbildung des ehelichen. Wie die Braͤute in Lakedaͤmon, ſo wurden hier die Knaben geraubt 6. Der Raub wurde, wenigſtens drei Tage vorher, den Blutsfreunden des Knaben an- gekuͤndigt, die ihn indeß ganz unbeſorgt die gewohnten Wege gehen ließen, und auch beim Raube nur ſchein- bar widerſtanden: ausgenommen, wenn der Raubende an Geſchlecht oder perſoͤnlicher Eigenſchaft des Knaben unwuͤrdig ſchien. Dieſer fuͤhrte ihn nun zunaͤchſt nach ſeinem Andreion, und dann mit den zufaͤllig zuſam- mengekommnen Begleitern in das Gebirg oder auf ſein Landgut. Hier behielt er ihn zwei Monate — laͤnger war nicht erlaubt — bei ſich, welche Zeit meiſt unter gemeinſchaftlichen Jagden verging. Nach Verlauf der- 1 Vgl. Plut. Lak. Ap. p. 209. Auch in Boͤotien ἀνὴϱ καὶ παῖς συζυγέντες ὁμιλοῦσιν, Xen. Lak. Staat 2, 12. 2 Plut. Lyk. 18. Ael. 3, 10. 3 Athen. 13, 601 e. 602 f. aus Ti- maͤos. Herakl. Pont. 3. Heyne ad Apolld. 3, 1, 2. Κϱ. ἐϱω- τικώτατοι neben Laked. und Boͤotern, Plut. Erot. 17. p. 37. 4 Ath. 11, 782 e. 5 Ephoros bei Str. 10, 483 c. He- ſych. s. v. φιλήτωϱ. 6 Ephor. a. O. vgl. Plut. de educ. 14.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/298
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/298>, abgerufen am 22.11.2024.