ganz in Demokratie verwandeln. Denn in der Perser- noth hatten die gemeinen Leute besonders auf den Schiffen einsehn gelernt, wie auf ihren Fäusten das Heil des Gesammten beruhe, und ließen sich nun auch den Antheil an der höchsten Gewalt nicht mehr vor- enthalten. Die Demokratie blühte, so lange große Männer durch eine imposante Persönlichkeit sie zu len- ken verstanden, und die Besseren zu handeln wagten; sie sank, als, durch schmählichen Lohn angelockt, der gierige und müssige Pöbel sich überall vordrängte. Wir wollen das Bild der Ochlokratie nicht weiter ausfüh- ren, in welcher eigentlich aller innere Organismus aufgelöst, und der Staat ganz der schnödesten Will- kühr preis gegeben wird.
6.
Wir haben die letzten dieser Veränderungen, welche der sogenannte Geist der Zeit herbeiführte, an der Geschichte Athens nachgewiesen, obgleich derselbe Gang auch an andern, selbst ursprünglich Dorischen Staaten dargestellt werden kann. So fand in Am- brakia, ziemlich zur selben Zeit wie in Athen, ein all- mäliger Uebergang von der Timokratie zur Demokratie statt 1, und auch in Argos kam damals die Demo- kratie auf. In den Dorischen Staaten Kreta's herrschte zur Zeit des Polybios die Volksgemeinde so unum- schränkt, daß dieser Schriftsteller sich selbst verwundert, wie seine Beschreibung derselben mit allen frühern so ganz im Widerspruche stehe 2. Indessen können diese Veränderungen, zumal da sie gewöhnlich die Dorischen Familien vom Ruder drängten, und den Dorismus auf- hoben, unsere Aufmerksamkeit nicht so in Anspruch neh- men, als das eigentliche Wesen des Dorischen Staa- tes, welches in der altkretischen und Lakedämonischen
1 Arist. 5, 2, 9. 3, 6. mit Schneiders Anm.
2 6, 46.
ganz in Demokratie verwandeln. Denn in der Perſer- noth hatten die gemeinen Leute beſonders auf den Schiffen einſehn gelernt, wie auf ihren Faͤuſten das Heil des Geſammten beruhe, und ließen ſich nun auch den Antheil an der hoͤchſten Gewalt nicht mehr vor- enthalten. Die Demokratie bluͤhte, ſo lange große Maͤnner durch eine impoſante Perſoͤnlichkeit ſie zu len- ken verſtanden, und die Beſſeren zu handeln wagten; ſie ſank, als, durch ſchmaͤhlichen Lohn angelockt, der gierige und muͤſſige Poͤbel ſich uͤberall vordraͤngte. Wir wollen das Bild der Ochlokratie nicht weiter ausfuͤh- ren, in welcher eigentlich aller innere Organismus aufgeloͤst, und der Staat ganz der ſchnoͤdeſten Will- kuͤhr preis gegeben wird.
6.
Wir haben die letzten dieſer Veraͤnderungen, welche der ſogenannte Geiſt der Zeit herbeifuͤhrte, an der Geſchichte Athens nachgewieſen, obgleich derſelbe Gang auch an andern, ſelbſt urſpruͤnglich Doriſchen Staaten dargeſtellt werden kann. So fand in Am- brakia, ziemlich zur ſelben Zeit wie in Athen, ein all- maͤliger Uebergang von der Timokratie zur Demokratie ſtatt 1, und auch in Argos kam damals die Demo- kratie auf. In den Doriſchen Staaten Kreta’s herrſchte zur Zeit des Polybios die Volksgemeinde ſo unum- ſchraͤnkt, daß dieſer Schriftſteller ſich ſelbſt verwundert, wie ſeine Beſchreibung derſelben mit allen fruͤhern ſo ganz im Widerſpruche ſtehe 2. Indeſſen koͤnnen dieſe Veraͤnderungen, zumal da ſie gewoͤhnlich die Doriſchen Familien vom Ruder draͤngten, und den Dorismus auf- hoben, unſere Aufmerkſamkeit nicht ſo in Anſpruch neh- men, als das eigentliche Weſen des Doriſchen Staa- tes, welches in der altkretiſchen und Lakedaͤmoniſchen
1 Ariſt. 5, 2, 9. 3, 6. mit Schneiders Anm.
2 6, 46.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0019"n="13"/>
ganz in Demokratie verwandeln. Denn in der Perſer-<lb/>
noth hatten die gemeinen Leute beſonders auf den<lb/>
Schiffen einſehn gelernt, wie auf ihren Faͤuſten das<lb/>
Heil des Geſammten beruhe, und ließen ſich nun auch<lb/>
den Antheil an der hoͤchſten Gewalt nicht mehr vor-<lb/>
enthalten. Die Demokratie bluͤhte, ſo lange große<lb/>
Maͤnner durch eine impoſante Perſoͤnlichkeit ſie zu len-<lb/>
ken verſtanden, und die Beſſeren zu handeln wagten;<lb/>ſie ſank, als, durch ſchmaͤhlichen Lohn angelockt, der<lb/>
gierige und muͤſſige Poͤbel ſich uͤberall vordraͤngte. Wir<lb/>
wollen das Bild der Ochlokratie nicht weiter ausfuͤh-<lb/>
ren, in welcher eigentlich aller innere Organismus<lb/>
aufgeloͤst, und der Staat ganz der ſchnoͤdeſten Will-<lb/>
kuͤhr preis gegeben wird.</p></div><lb/><divn="3"><head>6.</head><lb/><p>Wir haben die letzten dieſer Veraͤnderungen,<lb/>
welche der ſogenannte Geiſt der Zeit herbeifuͤhrte, an<lb/>
der Geſchichte Athens nachgewieſen, obgleich derſelbe<lb/>
Gang auch an andern, ſelbſt urſpruͤnglich Doriſchen<lb/>
Staaten dargeſtellt werden kann. So fand in Am-<lb/>
brakia, ziemlich zur ſelben Zeit wie in Athen, ein all-<lb/>
maͤliger Uebergang von der Timokratie zur Demokratie<lb/>ſtatt <noteplace="foot"n="1">Ariſt. 5, 2, 9. 3, 6. mit Schneiders Anm.</note>, und auch in Argos kam damals die Demo-<lb/>
kratie auf. In den Doriſchen Staaten Kreta’s herrſchte<lb/>
zur Zeit des Polybios die Volksgemeinde ſo unum-<lb/>ſchraͤnkt, daß dieſer Schriftſteller ſich ſelbſt verwundert,<lb/>
wie ſeine Beſchreibung derſelben mit allen fruͤhern ſo<lb/>
ganz im Widerſpruche ſtehe <noteplace="foot"n="2">6, 46.</note>. Indeſſen koͤnnen dieſe<lb/>
Veraͤnderungen, zumal da ſie gewoͤhnlich die Doriſchen<lb/>
Familien vom Ruder draͤngten, und den Dorismus auf-<lb/>
hoben, unſere Aufmerkſamkeit nicht ſo in Anſpruch neh-<lb/>
men, als das eigentliche Weſen des Doriſchen Staa-<lb/>
tes, welches in der altkretiſchen und Lakedaͤmoniſchen<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[13/0019]
ganz in Demokratie verwandeln. Denn in der Perſer-
noth hatten die gemeinen Leute beſonders auf den
Schiffen einſehn gelernt, wie auf ihren Faͤuſten das
Heil des Geſammten beruhe, und ließen ſich nun auch
den Antheil an der hoͤchſten Gewalt nicht mehr vor-
enthalten. Die Demokratie bluͤhte, ſo lange große
Maͤnner durch eine impoſante Perſoͤnlichkeit ſie zu len-
ken verſtanden, und die Beſſeren zu handeln wagten;
ſie ſank, als, durch ſchmaͤhlichen Lohn angelockt, der
gierige und muͤſſige Poͤbel ſich uͤberall vordraͤngte. Wir
wollen das Bild der Ochlokratie nicht weiter ausfuͤh-
ren, in welcher eigentlich aller innere Organismus
aufgeloͤst, und der Staat ganz der ſchnoͤdeſten Will-
kuͤhr preis gegeben wird.
6.
Wir haben die letzten dieſer Veraͤnderungen,
welche der ſogenannte Geiſt der Zeit herbeifuͤhrte, an
der Geſchichte Athens nachgewieſen, obgleich derſelbe
Gang auch an andern, ſelbſt urſpruͤnglich Doriſchen
Staaten dargeſtellt werden kann. So fand in Am-
brakia, ziemlich zur ſelben Zeit wie in Athen, ein all-
maͤliger Uebergang von der Timokratie zur Demokratie
ſtatt 1, und auch in Argos kam damals die Demo-
kratie auf. In den Doriſchen Staaten Kreta’s herrſchte
zur Zeit des Polybios die Volksgemeinde ſo unum-
ſchraͤnkt, daß dieſer Schriftſteller ſich ſelbſt verwundert,
wie ſeine Beſchreibung derſelben mit allen fruͤhern ſo
ganz im Widerſpruche ſtehe 2. Indeſſen koͤnnen dieſe
Veraͤnderungen, zumal da ſie gewoͤhnlich die Doriſchen
Familien vom Ruder draͤngten, und den Dorismus auf-
hoben, unſere Aufmerkſamkeit nicht ſo in Anſpruch neh-
men, als das eigentliche Weſen des Doriſchen Staa-
tes, welches in der altkretiſchen und Lakedaͤmoniſchen
1 Ariſt. 5, 2, 9. 3, 6. mit Schneiders Anm.
2 6, 46.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/19>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.