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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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tischer Verstand das Orakel zu leiten fortfuhr. Daß
eine Frau der Mund des Gottes werden mußte, hat
erstens in der den Doriern eigenthümlichen Schätzung
der Frauen, dann in der von den Alten öfter bemerk-
ten Neigung des weiblichen Geschlechts zu ekstatischen
Zuständen seinen Grund. Auch sonst sind mit Apollon-
tempeln häufig Prophetinnen verbunden, wie schon in
mythischer Zeit Manto bei dem Ismenischen und Kla-
rischen, und Kassandra bei dem Thymbräischen Heilig-
thume, mit denen die Sibyllen zunächst verwandt sind,
in deren Sprüchen -- nach einzelnen Andeutungen zu
schließen -- ein strenger Geist geweht zu haben scheint,
der das Ueberwallen des freudigen Muthes durch An-
kündigung der göttlichen Gerichte bändigte und be-
schränkte. Sehr bezeichnend sagt der alte Herakleitos
von Ephesos: mit rasendem Munde kündet die Sibylla
freudelose, ungezierte und ungesalbte Reden, aber des
Gottes voll 1. Derselbe sagt von der Weissagung zu
Pytho: der Gott, daß das Orakel ist zu Delphen,
sagt weder noch verbirgt er, sondern er zeigt an 2, wo-
mit wenigstens der häufigen Vorstellung von einer ge-
suchten Ambiguität dieser Orakel widersprochen wird.

Ueberhaupt aber mußte dieses Institut sehr an
Würde des Charakters verlieren, als es sich herabließ,
die verfänglichen Fragen, mit denen Krösos die Grie-
chischen Orakel versuchte, auf Schleichwegen zu lösen,
um der reichen Geschenke und Spenden willen, mit de-
nen der Lydermonarch Tempel und Stadt bedachte.
Ein Grieche hätte es in früherer Zeit nicht gewagt,

1 Bei Plut. Pyth. or. 6. p. 257. vgl. Schleiermacher Heraklit
im Museum der Alterthumsw. S. 332.
2 bei Plut. 21. S.
282. S. 333. Schleierm. Einfachheit scheint auch Herod. 7, 111.
an den Delphischen Orakeln einigermaßen zu rühmen, wie Philostr.
V. Apoll. 6, 11.
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tiſcher Verſtand das Orakel zu leiten fortfuhr. Daß
eine Frau der Mund des Gottes werden mußte, hat
erſtens in der den Doriern eigenthuͤmlichen Schaͤtzung
der Frauen, dann in der von den Alten oͤfter bemerk-
ten Neigung des weiblichen Geſchlechts zu ekſtatiſchen
Zuſtaͤnden ſeinen Grund. Auch ſonſt ſind mit Apollon-
tempeln haͤufig Prophetinnen verbunden, wie ſchon in
mythiſcher Zeit Manto bei dem Ismeniſchen und Kla-
riſchen, und Kaſſandra bei dem Thymbraͤiſchen Heilig-
thume, mit denen die Sibyllen zunaͤchſt verwandt ſind,
in deren Spruͤchen — nach einzelnen Andeutungen zu
ſchließen — ein ſtrenger Geiſt geweht zu haben ſcheint,
der das Ueberwallen des freudigen Muthes durch An-
kuͤndigung der goͤttlichen Gerichte baͤndigte und be-
ſchraͤnkte. Sehr bezeichnend ſagt der alte Herakleitos
von Epheſos: mit raſendem Munde kuͤndet die Sibylla
freudeloſe, ungezierte und ungeſalbte Reden, aber des
Gottes voll 1. Derſelbe ſagt von der Weiſſagung zu
Pytho: der Gott, daß das Orakel iſt zu Delphen,
ſagt weder noch verbirgt er, ſondern er zeigt an 2, wo-
mit wenigſtens der haͤufigen Vorſtellung von einer ge-
ſuchten Ambiguitaͤt dieſer Orakel widerſprochen wird.

Ueberhaupt aber mußte dieſes Inſtitut ſehr an
Wuͤrde des Charakters verlieren, als es ſich herabließ,
die verfaͤnglichen Fragen, mit denen Kroͤſos die Grie-
chiſchen Orakel verſuchte, auf Schleichwegen zu loͤſen,
um der reichen Geſchenke und Spenden willen, mit de-
nen der Lydermonarch Tempel und Stadt bedachte.
Ein Grieche haͤtte es in fruͤherer Zeit nicht gewagt,

1 Bei Plut. Pyth. or. 6. p. 257. vgl. Schleiermacher Heraklit
im Muſeum der Alterthumsw. S. 332.
2 bei Plut. 21. S.
282. S. 333. Schleierm. Einfachheit ſcheint auch Herod. 7, 111.
an den Delphiſchen Orakeln einigermaßen zu ruͤhmen, wie Philoſtr.
V. Apoll. 6, 11.
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[339/0369] tiſcher Verſtand das Orakel zu leiten fortfuhr. Daß eine Frau der Mund des Gottes werden mußte, hat erſtens in der den Doriern eigenthuͤmlichen Schaͤtzung der Frauen, dann in der von den Alten oͤfter bemerk- ten Neigung des weiblichen Geſchlechts zu ekſtatiſchen Zuſtaͤnden ſeinen Grund. Auch ſonſt ſind mit Apollon- tempeln haͤufig Prophetinnen verbunden, wie ſchon in mythiſcher Zeit Manto bei dem Ismeniſchen und Kla- riſchen, und Kaſſandra bei dem Thymbraͤiſchen Heilig- thume, mit denen die Sibyllen zunaͤchſt verwandt ſind, in deren Spruͤchen — nach einzelnen Andeutungen zu ſchließen — ein ſtrenger Geiſt geweht zu haben ſcheint, der das Ueberwallen des freudigen Muthes durch An- kuͤndigung der goͤttlichen Gerichte baͤndigte und be- ſchraͤnkte. Sehr bezeichnend ſagt der alte Herakleitos von Epheſos: mit raſendem Munde kuͤndet die Sibylla freudeloſe, ungezierte und ungeſalbte Reden, aber des Gottes voll 1. Derſelbe ſagt von der Weiſſagung zu Pytho: der Gott, daß das Orakel iſt zu Delphen, ſagt weder noch verbirgt er, ſondern er zeigt an 2, wo- mit wenigſtens der haͤufigen Vorſtellung von einer ge- ſuchten Ambiguitaͤt dieſer Orakel widerſprochen wird. Ueberhaupt aber mußte dieſes Inſtitut ſehr an Wuͤrde des Charakters verlieren, als es ſich herabließ, die verfaͤnglichen Fragen, mit denen Kroͤſos die Grie- chiſchen Orakel verſuchte, auf Schleichwegen zu loͤſen, um der reichen Geſchenke und Spenden willen, mit de- nen der Lydermonarch Tempel und Stadt bedachte. Ein Grieche haͤtte es in fruͤherer Zeit nicht gewagt, 1 Bei Plut. Pyth. or. 6. p. 257. vgl. Schleiermacher Heraklit im Muſeum der Alterthumsw. S. 332. 2 bei Plut. 21. S. 282. S. 333. Schleierm. Einfachheit ſcheint auch Herod. 7, 111. an den Delphiſchen Orakeln einigermaßen zu ruͤhmen, wie Philoſtr. V. Apoll. 6, 11. 22 *

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/369>, abgerufen am 25.11.2024.