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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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kai ieron ein. D. h. sie sollten über alles Auskunft
geben, was das Jus sacrum beträfe, wozu im Alter-
thum besonders die Sühnung und der Blutbann gehört.
Die Gebräuche der Reinigung waren also gänzlich in
den Händen der Eupatriden und gehörten zu ihren erb-
lichen Rechten (patriois)1, und dies ist der Grund,
warum den Edlen die Gerichte über Todschlag ehemals
alle, und auch später noch die über unvorsätzlichen
Mord zustanden, deren Zusammenhang mit der Apol-
loreligion ich unten darthun werde.

Ich habe diese Sätze absichtlich möglichst stark her-
vorgehoben, weil sie durch die spätere demokratische
Tendenz der Attischen Dichtung verdunkelt und verdeckt
worden sind, welche alle Spuren der gewaltsamen Be-
sitznahme Attika's und der fremden Abstammung der
Eupatridengeschlechter zu verwischen strebte. Darum
wurde die Lücke zwischen den Erechthiden und Aegiden
durch notorische Einschiebsel ausgefüllt, darum der My-
thos von Jon so mannigfach variirt. Diese Tendenz
erkennt man auch in Euripides Tragödie Jon, deren
künstliche und sinnvolle Anlage nicht genug bewundert
werden kann. Die alte Sage nannte Jon Sohn des
Helden Xuthos und des Pythischen Apoll, ohne darin
einen Widerspruch zu sehen, und gab ihm auch wohl
schon eine Landestochter, Kreusa, zur Mutter, wo-
durch sie recht gut die neugewonnene Heimat bezeich-
nete. Euripides löst dagegen den Jon ganz von Xu-
thos, der immer etwas derb und rauh, selbst tyran-
nisch2, geschildert wird, und wendet Alles so, daß er
nicht als Eindringling, sondern als einziger Sproß
des Erechthidenstamms weiblicher Linie erscheint. Da-

1 Daher (Athen. 9, 410 a.) Dorotheos en tois ton EUPA-
TRIDON (sonst las man thugatridon) patriois von der iketon
katharsis handelte.
2 z. B. V. 679.

καὶ ίερῶν ein. D. h. ſie ſollten uͤber alles Auskunft
geben, was das Jus sacrum betraͤfe, wozu im Alter-
thum beſonders die Suͤhnung und der Blutbann gehoͤrt.
Die Gebraͤuche der Reinigung waren alſo gaͤnzlich in
den Haͤnden der Eupatriden und gehoͤrten zu ihren erb-
lichen Rechten (πατρίοις)1, und dies iſt der Grund,
warum den Edlen die Gerichte uͤber Todſchlag ehemals
alle, und auch ſpaͤter noch die uͤber unvorſaͤtzlichen
Mord zuſtanden, deren Zuſammenhang mit der Apol-
loreligion ich unten darthun werde.

Ich habe dieſe Saͤtze abſichtlich moͤglichſt ſtark her-
vorgehoben, weil ſie durch die ſpaͤtere demokratiſche
Tendenz der Attiſchen Dichtung verdunkelt und verdeckt
worden ſind, welche alle Spuren der gewaltſamen Be-
ſitznahme Attika’s und der fremden Abſtammung der
Eupatridengeſchlechter zu verwiſchen ſtrebte. Darum
wurde die Luͤcke zwiſchen den Erechthiden und Aegiden
durch notoriſche Einſchiebſel ausgefuͤllt, darum der My-
thos von Jon ſo mannigfach variirt. Dieſe Tendenz
erkennt man auch in Euripides Tragoͤdie Jon, deren
kuͤnſtliche und ſinnvolle Anlage nicht genug bewundert
werden kann. Die alte Sage nannte Jon Sohn des
Helden Xuthos und des Pythiſchen Apoll, ohne darin
einen Widerſpruch zu ſehen, und gab ihm auch wohl
ſchon eine Landestochter, Kreuſa, zur Mutter, wo-
durch ſie recht gut die neugewonnene Heimat bezeich-
nete. Euripides loͤst dagegen den Jon ganz von Xu-
thos, der immer etwas derb und rauh, ſelbſt tyran-
niſch2, geſchildert wird, und wendet Alles ſo, daß er
nicht als Eindringling, ſondern als einziger Sproß
des Erechthidenſtamms weiblicher Linie erſcheint. Da-

1 Daher (Athen. 9, 410 a.) Dorotheos ἐν τοῖς τῶν ΕϒΠΑ-
ΤΡΙΔΩΝ (ſonſt las man ϑυγατϱιδῶν) πατρίοις von der ἱκετῶν
κάθαϱσις handelte.
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[246/0276] καὶ ίερῶν ein. D. h. ſie ſollten uͤber alles Auskunft geben, was das Jus sacrum betraͤfe, wozu im Alter- thum beſonders die Suͤhnung und der Blutbann gehoͤrt. Die Gebraͤuche der Reinigung waren alſo gaͤnzlich in den Haͤnden der Eupatriden und gehoͤrten zu ihren erb- lichen Rechten (πατρίοις) 1, und dies iſt der Grund, warum den Edlen die Gerichte uͤber Todſchlag ehemals alle, und auch ſpaͤter noch die uͤber unvorſaͤtzlichen Mord zuſtanden, deren Zuſammenhang mit der Apol- loreligion ich unten darthun werde. Ich habe dieſe Saͤtze abſichtlich moͤglichſt ſtark her- vorgehoben, weil ſie durch die ſpaͤtere demokratiſche Tendenz der Attiſchen Dichtung verdunkelt und verdeckt worden ſind, welche alle Spuren der gewaltſamen Be- ſitznahme Attika’s und der fremden Abſtammung der Eupatridengeſchlechter zu verwiſchen ſtrebte. Darum wurde die Luͤcke zwiſchen den Erechthiden und Aegiden durch notoriſche Einſchiebſel ausgefuͤllt, darum der My- thos von Jon ſo mannigfach variirt. Dieſe Tendenz erkennt man auch in Euripides Tragoͤdie Jon, deren kuͤnſtliche und ſinnvolle Anlage nicht genug bewundert werden kann. Die alte Sage nannte Jon Sohn des Helden Xuthos und des Pythiſchen Apoll, ohne darin einen Widerſpruch zu ſehen, und gab ihm auch wohl ſchon eine Landestochter, Kreuſa, zur Mutter, wo- durch ſie recht gut die neugewonnene Heimat bezeich- nete. Euripides loͤst dagegen den Jon ganz von Xu- thos, der immer etwas derb und rauh, ſelbſt tyran- niſch 2, geſchildert wird, und wendet Alles ſo, daß er nicht als Eindringling, ſondern als einziger Sproß des Erechthidenſtamms weiblicher Linie erſcheint. Da- 1 Daher (Athen. 9, 410 a.) Dorotheos ἐν τοῖς τῶν ΕϒΠΑ- ΤΡΙΔΩΝ (ſonſt las man ϑυγατϱιδῶν) πατρίοις von der ἱκετῶν κάθαϱσις handelte. 2 z. B. V. 679.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/276>, abgerufen am 24.11.2024.