Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.gerathen siebenzig oder achtzig? Ich bin geworden alt in einem Tage und in einer Nacht zwanzig, dreißig Jahre, und ich kam nach Mannheim zu Ihrem seligen Vater, das werden jetzt sein mehr als zwanzig Jahre, da war ich schon ein Greis, wie ich bin heute. Darin muß ich Ihnen beistimmen, Herr Marquis. So lange ich die Ehre habe, Sie zu kennen, haben Sie sich nicht im mindesten verändert, und wenn ich der Erinnerung aus meiner ersten Kindheit trauen darf, so sind Sie noch ganz Derselbe, der mich so oft auf seinen Armen geschaukelt hat, und dessen weiche seidene Röcke mit der bunten Stickerei ich so gern betastete. Dazu kömmt freilich aber auch Ihre unveränderte Tracht. Warum sollt' ich verändern meine Tracht, da ich mich selbst nicht habe verändert in so vielen Jahren? Ich trage in mir und auf mir mein Zeitalter und mein Vaterland, und darum bin ich zu Hause überall, in China wie in Frankreich. Denn mein Frankreich ist nicht mehr zu finden in Frankreich. Ich müßt' es auch tragen hinein mit meiner Person. Die Bourbons haben sich wieder gesetzt auf den Thron ihrer Väter, aber rings um sie herum da herrscht noch die böse neue Welt, Charte, Constitution, Legion d'honneur, Ducs de batailles, Code Napoleon. Ah, mon Dieu, est ce que c'est la France? Die Kinder der Revolution und die Creaturen des Ty- gerathen siebenzig oder achtzig? Ich bin geworden alt in einem Tage und in einer Nacht zwanzig, dreißig Jahre, und ich kam nach Mannheim zu Ihrem seligen Vater, das werden jetzt sein mehr als zwanzig Jahre, da war ich schon ein Greis, wie ich bin heute. Darin muß ich Ihnen beistimmen, Herr Marquis. So lange ich die Ehre habe, Sie zu kennen, haben Sie sich nicht im mindesten verändert, und wenn ich der Erinnerung aus meiner ersten Kindheit trauen darf, so sind Sie noch ganz Derselbe, der mich so oft auf seinen Armen geschaukelt hat, und dessen weiche seidene Röcke mit der bunten Stickerei ich so gern betastete. Dazu kömmt freilich aber auch Ihre unveränderte Tracht. Warum sollt' ich verändern meine Tracht, da ich mich selbst nicht habe verändert in so vielen Jahren? Ich trage in mir und auf mir mein Zeitalter und mein Vaterland, und darum bin ich zu Hause überall, in China wie in Frankreich. Denn mein Frankreich ist nicht mehr zu finden in Frankreich. Ich müßt' es auch tragen hinein mit meiner Person. Die Bourbons haben sich wieder gesetzt auf den Thron ihrer Väter, aber rings um sie herum da herrscht noch die böse neue Welt, Charte, Constitution, Légion d’honneur, Ducs de batailles, Code Napoléon. Ah, mon Dieu, est ce que c’est la France? Die Kinder der Revolution und die Creaturen des Ty- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="5"> <p><pb facs="#f0041"/> gerathen siebenzig oder achtzig? Ich bin geworden alt in einem Tage und in einer Nacht zwanzig, dreißig Jahre, und ich kam nach Mannheim zu Ihrem seligen Vater, das werden jetzt sein mehr als zwanzig Jahre, da war ich schon ein Greis, wie ich bin heute.</p><lb/> <p>Darin muß ich Ihnen beistimmen, Herr Marquis. So lange ich die Ehre habe, Sie zu kennen, haben Sie sich nicht im mindesten verändert, und wenn ich der Erinnerung aus meiner ersten Kindheit trauen darf, so sind Sie noch ganz Derselbe, der mich so oft auf seinen Armen geschaukelt hat, und dessen weiche seidene Röcke mit der bunten Stickerei ich so gern betastete. Dazu kömmt freilich aber auch Ihre unveränderte Tracht.</p><lb/> <p>Warum sollt' ich verändern meine Tracht, da ich mich selbst nicht habe verändert in so vielen Jahren? Ich trage in mir und auf mir mein Zeitalter und mein Vaterland, und darum bin ich zu Hause überall, in China wie in Frankreich. Denn mein Frankreich ist nicht mehr zu finden in Frankreich. Ich müßt' es auch tragen hinein mit meiner Person. Die Bourbons haben sich wieder gesetzt auf den Thron ihrer Väter, aber rings um sie herum da herrscht noch die böse neue Welt, Charte, Constitution, Légion d’honneur, Ducs de batailles, Code Napoléon. Ah, mon Dieu, est ce que c’est la France? Die Kinder der Revolution und die Creaturen des Ty-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0041]
gerathen siebenzig oder achtzig? Ich bin geworden alt in einem Tage und in einer Nacht zwanzig, dreißig Jahre, und ich kam nach Mannheim zu Ihrem seligen Vater, das werden jetzt sein mehr als zwanzig Jahre, da war ich schon ein Greis, wie ich bin heute.
Darin muß ich Ihnen beistimmen, Herr Marquis. So lange ich die Ehre habe, Sie zu kennen, haben Sie sich nicht im mindesten verändert, und wenn ich der Erinnerung aus meiner ersten Kindheit trauen darf, so sind Sie noch ganz Derselbe, der mich so oft auf seinen Armen geschaukelt hat, und dessen weiche seidene Röcke mit der bunten Stickerei ich so gern betastete. Dazu kömmt freilich aber auch Ihre unveränderte Tracht.
Warum sollt' ich verändern meine Tracht, da ich mich selbst nicht habe verändert in so vielen Jahren? Ich trage in mir und auf mir mein Zeitalter und mein Vaterland, und darum bin ich zu Hause überall, in China wie in Frankreich. Denn mein Frankreich ist nicht mehr zu finden in Frankreich. Ich müßt' es auch tragen hinein mit meiner Person. Die Bourbons haben sich wieder gesetzt auf den Thron ihrer Väter, aber rings um sie herum da herrscht noch die böse neue Welt, Charte, Constitution, Légion d’honneur, Ducs de batailles, Code Napoléon. Ah, mon Dieu, est ce que c’est la France? Die Kinder der Revolution und die Creaturen des Ty-
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Zitationshilfe: | Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/41>, abgerufen am 16.07.2024. |