Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Italien und der Tempel des alten Marquis waren die Gegenstände, mit denen seine Phantasie wachend und schlafend spielte und kämpfte. Er führte die Geheimräthin mit ihrer Tochter durch die Logen des Vaticans, und als seine Augen sich einmal von den hohen Kunstwerken auf seine eigene Figur herunterwendeten, bemerkte er, daß er ohne Beinkleider einherging. In Tivoli gerieth er in den Sturz der Cascatellen hinein, und auf dem Vesuv in eine Rauchsäule. Dann war maskirter Ball bei dem Papste, und der Marquis tanzte als klapperndes Gerippe in dem rosenrothen Rocke eine Menuet mit der kleinen Fanny, die sich außerordentlich verliebt geberdete. Am lebhaftesten träumte er von dem Pappenhäuschen des Tempels. Das Portrait, welches aus einem Fenster desselben herausblickte, wuchs allmälig immer größer und größer aus dem engen Gehäuse hervor und drängte sich ihm wie ein chinesisches Schattenspiel so rasch entgegen, daß es ihm den Athem versetzte, indem es in sein eigenes Gesicht überzufließen schien. Er fuhr auf und erwachte, aber das Bild schwebte noch vor seinem innern Auge, und die Züge desselben erinnerten ihn an die erste Liebe seiner Kindheit. Erste Liebe, einzige Liebe! rief er aus. Wie wunderbar steigt gerade heute das verblichene Bild des kleinen Engels, der mich lieben lehrte, so hell und frisch aus der schlummernden Tiefe meines Herzens empor! Der Mensch liebt nur einmal, wie er nur einmal ge-

Italien und der Tempel des alten Marquis waren die Gegenstände, mit denen seine Phantasie wachend und schlafend spielte und kämpfte. Er führte die Geheimräthin mit ihrer Tochter durch die Logen des Vaticans, und als seine Augen sich einmal von den hohen Kunstwerken auf seine eigene Figur herunterwendeten, bemerkte er, daß er ohne Beinkleider einherging. In Tivoli gerieth er in den Sturz der Cascatellen hinein, und auf dem Vesuv in eine Rauchsäule. Dann war maskirter Ball bei dem Papste, und der Marquis tanzte als klapperndes Gerippe in dem rosenrothen Rocke eine Menuet mit der kleinen Fanny, die sich außerordentlich verliebt geberdete. Am lebhaftesten träumte er von dem Pappenhäuschen des Tempels. Das Portrait, welches aus einem Fenster desselben herausblickte, wuchs allmälig immer größer und größer aus dem engen Gehäuse hervor und drängte sich ihm wie ein chinesisches Schattenspiel so rasch entgegen, daß es ihm den Athem versetzte, indem es in sein eigenes Gesicht überzufließen schien. Er fuhr auf und erwachte, aber das Bild schwebte noch vor seinem innern Auge, und die Züge desselben erinnerten ihn an die erste Liebe seiner Kindheit. Erste Liebe, einzige Liebe! rief er aus. Wie wunderbar steigt gerade heute das verblichene Bild des kleinen Engels, der mich lieben lehrte, so hell und frisch aus der schlummernden Tiefe meines Herzens empor! Der Mensch liebt nur einmal, wie er nur einmal ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="4">
        <p><pb facs="#f0033"/>
Italien und der Tempel des alten Marquis waren die Gegenstände, mit denen seine                Phantasie wachend und schlafend spielte und kämpfte. Er führte die Geheimräthin mit                ihrer Tochter durch die Logen des Vaticans, und als seine Augen sich einmal von den                hohen Kunstwerken auf seine eigene Figur herunterwendeten, bemerkte er, daß er ohne                Beinkleider einherging. In Tivoli gerieth er in den Sturz der Cascatellen hinein, und                auf dem Vesuv in eine Rauchsäule. Dann war maskirter Ball bei dem Papste, und der                Marquis tanzte als klapperndes Gerippe in dem rosenrothen Rocke eine Menuet mit der                kleinen Fanny, die sich außerordentlich verliebt geberdete. Am lebhaftesten träumte                er von dem Pappenhäuschen des Tempels. Das Portrait, welches aus einem Fenster                desselben herausblickte, wuchs allmälig immer größer und größer aus dem engen Gehäuse                hervor und drängte sich ihm wie ein chinesisches Schattenspiel so rasch entgegen, daß                es ihm den Athem versetzte, indem es in sein eigenes Gesicht überzufließen schien. Er                fuhr auf und erwachte, aber das Bild schwebte noch vor seinem innern Auge, und die                Züge desselben erinnerten ihn an die erste Liebe seiner Kindheit. Erste Liebe,                einzige Liebe! rief er aus. Wie wunderbar steigt gerade heute das verblichene Bild                des kleinen Engels, der mich lieben lehrte, so hell und frisch aus der schlummernden                Tiefe meines Herzens empor! Der Mensch liebt nur einmal, wie er nur einmal ge-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0033] Italien und der Tempel des alten Marquis waren die Gegenstände, mit denen seine Phantasie wachend und schlafend spielte und kämpfte. Er führte die Geheimräthin mit ihrer Tochter durch die Logen des Vaticans, und als seine Augen sich einmal von den hohen Kunstwerken auf seine eigene Figur herunterwendeten, bemerkte er, daß er ohne Beinkleider einherging. In Tivoli gerieth er in den Sturz der Cascatellen hinein, und auf dem Vesuv in eine Rauchsäule. Dann war maskirter Ball bei dem Papste, und der Marquis tanzte als klapperndes Gerippe in dem rosenrothen Rocke eine Menuet mit der kleinen Fanny, die sich außerordentlich verliebt geberdete. Am lebhaftesten träumte er von dem Pappenhäuschen des Tempels. Das Portrait, welches aus einem Fenster desselben herausblickte, wuchs allmälig immer größer und größer aus dem engen Gehäuse hervor und drängte sich ihm wie ein chinesisches Schattenspiel so rasch entgegen, daß es ihm den Athem versetzte, indem es in sein eigenes Gesicht überzufließen schien. Er fuhr auf und erwachte, aber das Bild schwebte noch vor seinem innern Auge, und die Züge desselben erinnerten ihn an die erste Liebe seiner Kindheit. Erste Liebe, einzige Liebe! rief er aus. Wie wunderbar steigt gerade heute das verblichene Bild des kleinen Engels, der mich lieben lehrte, so hell und frisch aus der schlummernden Tiefe meines Herzens empor! Der Mensch liebt nur einmal, wie er nur einmal ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T15:21:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T15:21:38Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/33
Zitationshilfe: Müller, Wilhelm: Debora. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–148. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_debora_1910/33>, abgerufen am 23.11.2024.