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Mozart, Leopold: Versuch einer gründlichen Violinschule. Augsburg, 1756.

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Das neunte Hauptstück.
sehen, die man mit ihrem rechten Namen die Signaturen nennet. Wer greift
es nun nicht mit Händen, daß es sehr elend läßt, wenn man das natürliche
mit noch einem langen Vorschlage verderbet? wenn man den Dissonanten,
der vorher schon regelmässig vorbereitet ist, ausläßt, und eine andere unge-
reimte Note dafür ergreift? ja wenn man gar die Stärke des Tones auf den
unnöthig dazu kommenden Vorschlag wirft, den Dissonanten aber sammt
der Auflösung erst still daran schleifet; da doch der Dissonant stark klingen,
und sich bey der Auflösung nach und nach erst verlieren solle?

Allein was kann der Schüler dafür, wenn es sein Lehrmeister selbst nicht
besser verstehet, und wenn der Lehrmeister selbst auf gut Glück in den Tag hin-
ein spielet ohne zu wissen was er thut? Und dennoch will oft noch dazu ein
solcher gerathewohl Spieler ein Componist heissen. Genug! man mache keine,
oder nur solche Auszierungen die weder die Harmonie noch Melodie verder-
ben. Und in Stücken, wo mehr als einer aus der nämlichen Stimme spielen,
nehme man alle Noten so, wie es der Componist vorgeschrieben hat. Man
lerne endlich einmal gut lesen, bevor man mit Figuren um sich werffen will:
denn mancher kann ein halbes Dutzend Concerte ungemein fertig und sauber
wegspielen; kömmt es aber dazu, daß er etwas anders gleich von der Faust
weggeigen solle, so weis er nicht drey Tacte nach des Componisten Meinung
vorzutragen: wenn gleich der Vortrag auf das genaueste bestimmet ist (d).

§. 22.

Es giebt noch einige in dieses Hauptstück gehörige Auszierungen, deren
ich eine den Ueberwurf, die andere einen Rückfall oder Abfall, die dritte
den Doppelschlag, die vierte den Halbtriller und die fünfte den Nach-
schlag
nennen will. Der Ueberwurf ist eine Note, die vor dem Vorschlage
an die vorhergehende Note ganz still angeschliffen wird. Dieser Ueberwurf
wird allezeit in die Höhe, bald in den nächsten Ton, bald in die Terz,
Quart,
u. s. f. auch noch in andere Töne gemacht. Man braucht ihn, theils
den aufsteigenden Vorschlag dadurch mit dem absteigenden als dem bes-
sern Vorschlage zu verwechseln; theils aber eine Note dadurch lebhafter zu
machen. Z. E.

Die
(d) Jch eifere vor die Reinigkeit des Vortrags: man nehme mirs also nicht übel,
daß ich die Wahrheit rede. Quid verum atque decens curo, & rogo, &
omnis in hoc sum. Horat.

Das neunte Hauptſtuͤck.
ſehen, die man mit ihrem rechten Namen die Signaturen nennet. Wer greift
es nun nicht mit Haͤnden, daß es ſehr elend laͤßt, wenn man das natuͤrliche
mit noch einem langen Vorſchlage verderbet? wenn man den Diſſonanten,
der vorher ſchon regelmaͤſſig vorbereitet iſt, auslaͤßt, und eine andere unge-
reimte Note dafuͤr ergreift? ja wenn man gar die Staͤrke des Tones auf den
unnoͤthig dazu kommenden Vorſchlag wirft, den Diſſonanten aber ſammt
der Aufloͤſung erſt ſtill daran ſchleifet; da doch der Diſſonant ſtark klingen,
und ſich bey der Aufloͤſung nach und nach erſt verlieren ſolle?

Allein was kann der Schuͤler dafuͤr, wenn es ſein Lehrmeiſter ſelbſt nicht
beſſer verſtehet, und wenn der Lehrmeiſter ſelbſt auf gut Gluͤck in den Tag hin-
ein ſpielet ohne zu wiſſen was er thut? Und dennoch will oft noch dazu ein
ſolcher gerathewohl Spieler ein Componiſt heiſſen. Genug! man mache keine,
oder nur ſolche Auszierungen die weder die Harmonie noch Melodie verder-
ben. Und in Stuͤcken, wo mehr als einer aus der naͤmlichen Stimme ſpielen,
nehme man alle Noten ſo, wie es der Componiſt vorgeſchrieben hat. Man
lerne endlich einmal gut leſen, bevor man mit Figuren um ſich werffen will:
denn mancher kann ein halbes Dutzend Concerte ungemein fertig und ſauber
wegſpielen; koͤmmt es aber dazu, daß er etwas anders gleich von der Fauſt
weggeigen ſolle, ſo weis er nicht drey Tacte nach des Componiſten Meinung
vorzutragen: wenn gleich der Vortrag auf das genaueſte beſtimmet iſt (d).

§. 22.

Es giebt noch einige in dieſes Hauptſtuͤck gehoͤrige Auszierungen, deren
ich eine den Ueberwurf, die andere einen Ruͤckfall oder Abfall, die dritte
den Doppelſchlag, die vierte den Halbtriller und die fuͤnfte den Nach-
ſchlag
nennen will. Der Ueberwurf iſt eine Note, die vor dem Vorſchlage
an die vorhergehende Note ganz ſtill angeſchliffen wird. Dieſer Ueberwurf
wird allezeit in die Hoͤhe, bald in den naͤchſten Ton, bald in die Terz,
Quart,
u. ſ. f. auch noch in andere Toͤne gemacht. Man braucht ihn, theils
den aufſteigenden Vorſchlag dadurch mit dem abſteigenden als dem beſ-
ſern Vorſchlage zu verwechſeln; theils aber eine Note dadurch lebhafter zu
machen. Z. E.

Die
(d) Jch eifere vor die Reinigkeit des Vortrags: man nehme mirs alſo nicht uͤbel,
daß ich die Wahrheit rede. Quid verum atque decens curo, & rogo, &
omnis in hoc ſum. Horat.
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[210/0238] Das neunte Hauptſtuͤck. ſehen, die man mit ihrem rechten Namen die Signaturen nennet. Wer greift es nun nicht mit Haͤnden, daß es ſehr elend laͤßt, wenn man das natuͤrliche mit noch einem langen Vorſchlage verderbet? wenn man den Diſſonanten, der vorher ſchon regelmaͤſſig vorbereitet iſt, auslaͤßt, und eine andere unge- reimte Note dafuͤr ergreift? ja wenn man gar die Staͤrke des Tones auf den unnoͤthig dazu kommenden Vorſchlag wirft, den Diſſonanten aber ſammt der Aufloͤſung erſt ſtill daran ſchleifet; da doch der Diſſonant ſtark klingen, und ſich bey der Aufloͤſung nach und nach erſt verlieren ſolle? Allein was kann der Schuͤler dafuͤr, wenn es ſein Lehrmeiſter ſelbſt nicht beſſer verſtehet, und wenn der Lehrmeiſter ſelbſt auf gut Gluͤck in den Tag hin- ein ſpielet ohne zu wiſſen was er thut? Und dennoch will oft noch dazu ein ſolcher gerathewohl Spieler ein Componiſt heiſſen. Genug! man mache keine, oder nur ſolche Auszierungen die weder die Harmonie noch Melodie verder- ben. Und in Stuͤcken, wo mehr als einer aus der naͤmlichen Stimme ſpielen, nehme man alle Noten ſo, wie es der Componiſt vorgeſchrieben hat. Man lerne endlich einmal gut leſen, bevor man mit Figuren um ſich werffen will: denn mancher kann ein halbes Dutzend Concerte ungemein fertig und ſauber wegſpielen; koͤmmt es aber dazu, daß er etwas anders gleich von der Fauſt weggeigen ſolle, ſo weis er nicht drey Tacte nach des Componiſten Meinung vorzutragen: wenn gleich der Vortrag auf das genaueſte beſtimmet iſt (d). §. 22. Es giebt noch einige in dieſes Hauptſtuͤck gehoͤrige Auszierungen, deren ich eine den Ueberwurf, die andere einen Ruͤckfall oder Abfall, die dritte den Doppelſchlag, die vierte den Halbtriller und die fuͤnfte den Nach- ſchlag nennen will. Der Ueberwurf iſt eine Note, die vor dem Vorſchlage an die vorhergehende Note ganz ſtill angeſchliffen wird. Dieſer Ueberwurf wird allezeit in die Hoͤhe, bald in den naͤchſten Ton, bald in die Terz, Quart, u. ſ. f. auch noch in andere Toͤne gemacht. Man braucht ihn, theils den aufſteigenden Vorſchlag dadurch mit dem abſteigenden als dem beſ- ſern Vorſchlage zu verwechſeln; theils aber eine Note dadurch lebhafter zu machen. Z. E. Die (d) Jch eifere vor die Reinigkeit des Vortrags: man nehme mirs alſo nicht uͤbel, daß ich die Wahrheit rede. Quid verum atque decens curo, & rogo, & omnis in hoc ſum. Horat.

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Zitationshilfe: Mozart, Leopold: Versuch einer gründlichen Violinschule. Augsburg, 1756, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mozart_violinschule_1756/238>, abgerufen am 23.11.2024.