Diese Frau war hier erzogen, hier gebohren, hier alt geworden, hatte immer die Wände dieser Stube, den großen Ofen, die Tische, die Bänke gesehen -- nun dachte er sich nach und nach in die Vorstellungen und Gedanken dieser alten Frau so sehr hinein, daß er sich selbst dar¬ über vergaß, und wie in eine Art von wachen¬ den Traum gerieth, als ob er auch hier bleiben müste, und nicht aus der Stelle könne. -- Ein solcher Traum war bei der plötzlichen Verände¬ rung, die sein Zustand gelitten hatte, sehr na¬ türlich -- und als seine Gedanken sich sammle¬ ten, fühlte er das Vergnügen der Abwechse¬ lung, der Ausdehnung, der unbegrenzten Frei¬ heit doppelt wieder -- er war wie von Fesseln entbunden, und die alte Frau, mit bebendem Haupte, war ihm wieder ein gleichgültiger Ge¬ genstand.
Diese Art aber sich in die Vorstellungen an¬ derer Menschen hineinzudenken, und sich selbst darüber zu vergessen, klebte ihm von Kindheit an -- es war einer seiner kindischen Wünsche, daß er nur einen Augenblick aus den Augen eines andern Menschen, den er vor sich sahe,
Dieſe Frau war hier erzogen, hier gebohren, hier alt geworden, hatte immer die Waͤnde dieſer Stube, den großen Ofen, die Tiſche, die Baͤnke geſehen — nun dachte er ſich nach und nach in die Vorſtellungen und Gedanken dieſer alten Frau ſo ſehr hinein, daß er ſich ſelbſt dar¬ uͤber vergaß, und wie in eine Art von wachen¬ den Traum gerieth, als ob er auch hier bleiben muͤſte, und nicht aus der Stelle koͤnne. — Ein ſolcher Traum war bei der ploͤtzlichen Veraͤnde¬ rung, die ſein Zuſtand gelitten hatte, ſehr na¬ tuͤrlich — und als ſeine Gedanken ſich ſammle¬ ten, fuͤhlte er das Vergnuͤgen der Abwechſe¬ lung, der Ausdehnung, der unbegrenzten Frei¬ heit doppelt wieder — er war wie von Feſſeln entbunden, und die alte Frau, mit bebendem Haupte, war ihm wieder ein gleichguͤltiger Ge¬ genſtand.
Dieſe Art aber ſich in die Vorſtellungen an¬ derer Menſchen hineinzudenken, und ſich ſelbſt daruͤber zu vergeſſen, klebte ihm von Kindheit an — es war einer ſeiner kindiſchen Wuͤnſche, daß er nur einen Augenblick aus den Augen eines andern Menſchen, den er vor ſich ſahe,
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Dieſe Frau war hier erzogen, hier gebohren,
hier alt geworden, hatte immer die Waͤnde
dieſer Stube, den großen Ofen, die Tiſche, die
Baͤnke geſehen — nun dachte er ſich nach und
nach in die Vorſtellungen und Gedanken dieſer
alten Frau ſo ſehr hinein, daß er ſich ſelbſt dar¬
uͤber vergaß, und wie in eine Art von wachen¬
den Traum gerieth, als ob er auch hier bleiben
muͤſte, und nicht aus der Stelle koͤnne. — Ein
ſolcher Traum war bei der ploͤtzlichen Veraͤnde¬
rung, die ſein Zuſtand gelitten hatte, ſehr na¬
tuͤrlich — und als ſeine Gedanken ſich ſammle¬
ten, fuͤhlte er das Vergnuͤgen der Abwechſe¬
lung, der Ausdehnung, der unbegrenzten Frei¬
heit doppelt wieder — er war wie von Feſſeln
entbunden, und die alte Frau, mit bebendem
Haupte, war ihm wieder ein gleichguͤltiger Ge¬
genſtand.
Dieſe Art aber ſich in die Vorſtellungen an¬
derer Menſchen hineinzudenken, und ſich ſelbſt
daruͤber zu vergeſſen, klebte ihm von Kindheit
an — es war einer ſeiner kindiſchen Wuͤnſche,
daß er nur einen Augenblick aus den Augen
eines andern Menſchen, den er vor ſich ſahe,
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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 4. Berlin, 1790, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser04_1790/24>, abgerufen am 16.02.2025.
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