Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

schen in eins zusammen zu fließen -- da war
nichts mehr, das sie absonderte und von einan¬
der trennte -- er dachte sich den übrig geblie¬
benen und in der Luft herumfliegenden
Verstand eines Menschen, der bald in seiner
Vorstellungskraft zerftatterte
. --

Und dann schien ihm aus der ungeheuren
Menschenmasse wieder eine so ungeheure un¬
förmliche Seelenmasse zu entstehen -- wo er
immer nicht einsahe, warum gerade so viel
und nicht mehr und nicht weniger da wä¬
ren, und weil die Zahl ins Unendliche fort¬
zugehen schien, das einzelne endlich fast so
unbedeutend wie
nichts wurde.

Diese Unbedeutsamkeit, diß Verlieren
unter der Menge
, war es vorzüglich, was ihm
oft sein Daseyn lästig machte.

Nun ging er einmal eines Abends traurig
und mißmuthig auf der Straße umher -- es war
schon in der Dämmerung, aber doch nicht so
dunkel, daß er nicht von einigen Leuten hätte ge¬
sehen werden können, deren Anblick ihm uner¬
träglich war, weil er ihnen ein Gegenstand des
Spottes und der Verachtung zu seyn glaubte. --

ſchen in eins zuſammen zu fließen — da war
nichts mehr, das ſie abſonderte und von einan¬
der trennte — er dachte ſich den uͤbrig geblie¬
benen und in der Luft herumfliegenden
Verſtand eines Menſchen, der bald in ſeiner
Vorſtellungskraft zerftatterte
. —

Und dann ſchien ihm aus der ungeheuren
Menſchenmaſſe wieder eine ſo ungeheure un¬
foͤrmliche Seelenmaſſe zu entſtehen — wo er
immer nicht einſahe, warum gerade ſo viel
und nicht mehr und nicht weniger da waͤ¬
ren, und weil die Zahl ins Unendliche fort¬
zugehen ſchien, das einzelne endlich faſt ſo
unbedeutend wie
nichts wurde.

Dieſe Unbedeutſamkeit, diß Verlieren
unter der Menge
, war es vorzuͤglich, was ihm
oft ſein Daſeyn laͤſtig machte.

Nun ging er einmal eines Abends traurig
und mißmuthig auf der Straße umher — es war
ſchon in der Daͤmmerung, aber doch nicht ſo
dunkel, daß er nicht von einigen Leuten haͤtte ge¬
ſehen werden koͤnnen, deren Anblick ihm uner¬
traͤglich war, weil er ihnen ein Gegenſtand des
Spottes und der Verachtung zu ſeyn glaubte. —

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0054" n="44"/>
&#x017F;chen in eins zu&#x017F;ammen zu fließen &#x2014; da war<lb/>
nichts mehr, das &#x017F;ie ab&#x017F;onderte und von einan¬<lb/>
der trennte &#x2014; er dachte &#x017F;ich <hi rendition="#fr">den u&#x0364;brig geblie¬<lb/>
benen und in der Luft herumfliegenden<lb/>
Ver&#x017F;tand eines Men&#x017F;chen, der bald in &#x017F;einer<lb/>
Vor&#x017F;tellungskraft zerftatterte</hi>. &#x2014;</p><lb/>
      <p>Und dann &#x017F;chien ihm aus der ungeheuren<lb/>
Men&#x017F;chenma&#x017F;&#x017F;e wieder eine &#x017F;o ungeheure un¬<lb/>
fo&#x0364;rmliche <hi rendition="#fr">Seelenma&#x017F;&#x017F;e</hi> zu ent&#x017F;tehen &#x2014; wo er<lb/>
immer nicht ein&#x017F;ahe, <hi rendition="#fr">warum gerade &#x017F;o viel<lb/>
und nicht mehr und nicht weniger da wa&#x0364;¬<lb/>
ren, und weil die Zahl ins Unendliche fort¬<lb/>
zugehen &#x017F;chien, das einzelne endlich fa&#x017F;t &#x017F;o<lb/>
unbedeutend wie</hi> <hi rendition="#fr #g">nichts</hi> <hi rendition="#fr">wurde.</hi></p><lb/>
      <p>Die&#x017F;e <hi rendition="#fr">Unbedeut&#x017F;amkeit</hi>, diß <hi rendition="#fr">Verlieren<lb/>
unter der Menge</hi>, war es vorzu&#x0364;glich, was ihm<lb/>
oft &#x017F;ein Da&#x017F;eyn la&#x0364;&#x017F;tig machte.</p><lb/>
      <p>Nun ging er einmal eines Abends traurig<lb/>
und mißmuthig auf der Straße umher &#x2014; es war<lb/>
&#x017F;chon in der Da&#x0364;mmerung, aber doch nicht &#x017F;o<lb/>
dunkel, daß er nicht von einigen Leuten ha&#x0364;tte ge¬<lb/>
&#x017F;ehen werden ko&#x0364;nnen, deren Anblick ihm uner¬<lb/>
tra&#x0364;glich war, weil er ihnen ein Gegen&#x017F;tand des<lb/>
Spottes und der Verachtung zu &#x017F;eyn glaubte. &#x2014;</p><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0054] ſchen in eins zuſammen zu fließen — da war nichts mehr, das ſie abſonderte und von einan¬ der trennte — er dachte ſich den uͤbrig geblie¬ benen und in der Luft herumfliegenden Verſtand eines Menſchen, der bald in ſeiner Vorſtellungskraft zerftatterte. — Und dann ſchien ihm aus der ungeheuren Menſchenmaſſe wieder eine ſo ungeheure un¬ foͤrmliche Seelenmaſſe zu entſtehen — wo er immer nicht einſahe, warum gerade ſo viel und nicht mehr und nicht weniger da waͤ¬ ren, und weil die Zahl ins Unendliche fort¬ zugehen ſchien, das einzelne endlich faſt ſo unbedeutend wie nichts wurde. Dieſe Unbedeutſamkeit, diß Verlieren unter der Menge, war es vorzuͤglich, was ihm oft ſein Daſeyn laͤſtig machte. Nun ging er einmal eines Abends traurig und mißmuthig auf der Straße umher — es war ſchon in der Daͤmmerung, aber doch nicht ſo dunkel, daß er nicht von einigen Leuten haͤtte ge¬ ſehen werden koͤnnen, deren Anblick ihm uner¬ traͤglich war, weil er ihnen ein Gegenſtand des Spottes und der Verachtung zu ſeyn glaubte. —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/54
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/54>, abgerufen am 27.11.2024.