Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

seiner Existenz, und der Gedanke oder vielmehr
Ungedanke vom Nichtseyn, erschütterte seine
Seele -- es war ihm unerklärlich, daß er jetzt
wirklich sey, und doch einmal nicht gewesen seyn
sollte -- so irrte er ohne Stütze und ohne Führer
in den Tiefen der Metaphysik umher. --

Manchmal, wenn er itzt im Chore sang, und
statt daß seine Mitschüler sich miteinander un¬
terredeten, einsam vor sich weg ging, und diese
dann hinter ihm sagten: da geht der Melancho¬
likus! so dachte er über die Natur des Schalles
nach, und suchte zu erforschen, was sich dabei
mit Worten nicht ausdrücken ließ. -- Diß
trat nun in die Stelle seiner vorigen romanti¬
schen Träume, womit er sich sonst so manche
trübe Stunde verphantasirt hatte, wenn er an
einem traurigen Wintertage im Schnee und Regen
im Chore sang. --

Er liehe sich nun von dem Bücherantiquarius
Wolfs Metaphysik, und las auch die nach
der einmal angefangenen Weise durch -- und
wenn er nun zu dem Schuster S. . . kam, so
war der Stoff zu ihren philosophischen Gesprä¬
chen weit reichhaltiger, wie vorher -- und sie ka¬

ſeiner Exiſtenz, und der Gedanke oder vielmehr
Ungedanke vom Nichtſeyn, erſchuͤtterte ſeine
Seele — es war ihm unerklaͤrlich, daß er jetzt
wirklich ſey, und doch einmal nicht geweſen ſeyn
ſollte — ſo irrte er ohne Stuͤtze und ohne Fuͤhrer
in den Tiefen der Metaphyſik umher. —

Manchmal, wenn er itzt im Chore ſang, und
ſtatt daß ſeine Mitſchuͤler ſich miteinander un¬
terredeten, einſam vor ſich weg ging, und dieſe
dann hinter ihm ſagten: da geht der Melancho¬
likus! ſo dachte er uͤber die Natur des Schalles
nach, und ſuchte zu erforſchen, was ſich dabei
mit Worten nicht ausdruͤcken ließ. — Diß
trat nun in die Stelle ſeiner vorigen romanti¬
ſchen Traͤume, womit er ſich ſonſt ſo manche
truͤbe Stunde verphantaſirt hatte, wenn er an
einem traurigen Wintertage im Schnee und Regen
im Chore ſang. —

Er liehe ſich nun von dem Buͤcherantiquarius
Wolfs Metaphyſik, und las auch die nach
der einmal angefangenen Weiſe durch — und
wenn er nun zu dem Schuſter S. . . kam, ſo
war der Stoff zu ihren philoſophiſchen Geſpraͤ¬
chen weit reichhaltiger, wie vorher — und ſie ka¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0039" n="29"/>
&#x017F;einer Exi&#x017F;tenz, und der Gedanke oder vielmehr<lb/>
Ungedanke vom Nicht&#x017F;eyn, er&#x017F;chu&#x0364;tterte &#x017F;eine<lb/>
Seele &#x2014; es war ihm unerkla&#x0364;rlich, daß er jetzt<lb/>
wirklich &#x017F;ey, und doch einmal nicht gewe&#x017F;en &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;ollte &#x2014; &#x017F;o irrte er ohne Stu&#x0364;tze und ohne Fu&#x0364;hrer<lb/>
in den Tiefen der Metaphy&#x017F;ik umher. &#x2014;</p><lb/>
      <p>Manchmal, wenn er itzt im Chore &#x017F;ang, und<lb/>
&#x017F;tatt daß &#x017F;eine Mit&#x017F;chu&#x0364;ler &#x017F;ich miteinander un¬<lb/>
terredeten, ein&#x017F;am vor &#x017F;ich weg ging, und die&#x017F;e<lb/>
dann hinter ihm &#x017F;agten: da geht der Melancho¬<lb/>
likus! &#x017F;o dachte er u&#x0364;ber die Natur des Schalles<lb/>
nach, und &#x017F;uchte zu erfor&#x017F;chen, was &#x017F;ich dabei<lb/><hi rendition="#fr">mit Worten nicht ausdru&#x0364;cken</hi> ließ. &#x2014; Diß<lb/>
trat nun in die Stelle &#x017F;einer vorigen romanti¬<lb/>
&#x017F;chen Tra&#x0364;ume, womit er &#x017F;ich &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;o manche<lb/>
tru&#x0364;be <choice><sic>Stnnde</sic><corr>Stunde</corr></choice> verphanta&#x017F;irt hatte, wenn er an<lb/>
einem traurigen Wintertage im Schnee und Regen<lb/>
im Chore &#x017F;ang. &#x2014;</p><lb/>
      <p>Er liehe &#x017F;ich nun von dem Bu&#x0364;cherantiquarius<lb/><hi rendition="#fr">Wolfs Metaphy&#x017F;ik</hi>, und las auch die nach<lb/>
der einmal angefangenen Wei&#x017F;e durch &#x2014; und<lb/>
wenn er nun zu dem Schu&#x017F;ter S. . . kam, &#x017F;o<lb/>
war der Stoff zu ihren philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Ge&#x017F;pra&#x0364;¬<lb/>
chen weit reichhaltiger, wie vorher &#x2014; und &#x017F;ie ka¬<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[29/0039] ſeiner Exiſtenz, und der Gedanke oder vielmehr Ungedanke vom Nichtſeyn, erſchuͤtterte ſeine Seele — es war ihm unerklaͤrlich, daß er jetzt wirklich ſey, und doch einmal nicht geweſen ſeyn ſollte — ſo irrte er ohne Stuͤtze und ohne Fuͤhrer in den Tiefen der Metaphyſik umher. — Manchmal, wenn er itzt im Chore ſang, und ſtatt daß ſeine Mitſchuͤler ſich miteinander un¬ terredeten, einſam vor ſich weg ging, und dieſe dann hinter ihm ſagten: da geht der Melancho¬ likus! ſo dachte er uͤber die Natur des Schalles nach, und ſuchte zu erforſchen, was ſich dabei mit Worten nicht ausdruͤcken ließ. — Diß trat nun in die Stelle ſeiner vorigen romanti¬ ſchen Traͤume, womit er ſich ſonſt ſo manche truͤbe Stunde verphantaſirt hatte, wenn er an einem traurigen Wintertage im Schnee und Regen im Chore ſang. — Er liehe ſich nun von dem Buͤcherantiquarius Wolfs Metaphyſik, und las auch die nach der einmal angefangenen Weiſe durch — und wenn er nun zu dem Schuſter S. . . kam, ſo war der Stoff zu ihren philoſophiſchen Geſpraͤ¬ chen weit reichhaltiger, wie vorher — und ſie ka¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/39
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/39>, abgerufen am 21.11.2024.