der Mitternacht frei, wie das Wild in der Wüste -- die weite Erde war sein Bette -- die ganze Natur sein Gebiet. --
So wanderte er die ganze Nacht hindurch bis der Tag anbrach -- und als er die Gegen¬ stände allmälig wieder unterscheiden konnte, so däuchte es ihm nach der Gegend, als ob er ohn¬ gefähr noch eine halbe Meile von H... wäre -- auf einmal aber befand er sich, ehe er sichs ver¬ sahe, dicht an einer großen Kirchhofsmauer, die er sonst nie in dieser Gegend bemerkt hatte -- er nahm alle sein Nachdenken zusammen, und suchte sich zu orientieren, aber es war vergeb¬ lich -- er konnte die lange Kirchhofsmauer aus dem Zusammenhange der übrigen Gegenstände nicht erklären; sie war und blieb ihm eine Er¬ scheinung, welche ihn eine Zeitlang wirklich zwei¬ feln ließ, ob er wache oder träume -- er rieb sich die Augen -- aber die lange Kirchhofsmauer blieb immer da -- überdem war auch durch sein sonderbares Nichtwandern, und durch das Wegfal¬ len der gewohnten Pause, wodurch die Vorstellun¬ gen des Tages der Natur gemäß unterbrochen werden, seine Phantasie zerrüttet -- er fing
der Mitternacht frei, wie das Wild in der Wuͤſte — die weite Erde war ſein Bette — die ganze Natur ſein Gebiet. —
So wanderte er die ganze Nacht hindurch bis der Tag anbrach — und als er die Gegen¬ ſtaͤnde allmaͤlig wieder unterſcheiden konnte, ſo daͤuchte es ihm nach der Gegend, als ob er ohn¬ gefaͤhr noch eine halbe Meile von H... waͤre — auf einmal aber befand er ſich, ehe er ſichs ver¬ ſahe, dicht an einer großen Kirchhofsmauer, die er ſonſt nie in dieſer Gegend bemerkt hatte — er nahm alle ſein Nachdenken zuſammen, und ſuchte ſich zu orientieren, aber es war vergeb¬ lich — er konnte die lange Kirchhofsmauer aus dem Zuſammenhange der uͤbrigen Gegenſtaͤnde nicht erklaͤren; ſie war und blieb ihm eine Er¬ ſcheinung, welche ihn eine Zeitlang wirklich zwei¬ feln ließ, ob er wache oder traͤume — er rieb ſich die Augen — aber die lange Kirchhofsmauer blieb immer da — uͤberdem war auch durch ſein ſonderbares Nichtwandern, und durch das Wegfal¬ len der gewohnten Pauſe, wodurch die Vorſtellun¬ gen des Tages der Natur gemaͤß unterbrochen werden, ſeine Phantaſie zerruͤttet — er fing
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der Mitternacht frei, wie das Wild in der Wuͤſte
— die weite Erde war ſein Bette — die ganze
Natur ſein Gebiet. —
So wanderte er die ganze Nacht hindurch
bis der Tag anbrach — und als er die Gegen¬
ſtaͤnde allmaͤlig wieder unterſcheiden konnte, ſo
daͤuchte es ihm nach der Gegend, als ob er ohn¬
gefaͤhr noch eine halbe Meile von H... waͤre —
auf einmal aber befand er ſich, ehe er ſichs ver¬
ſahe, dicht an einer großen Kirchhofsmauer, die
er ſonſt nie in dieſer Gegend bemerkt hatte —
er nahm alle ſein Nachdenken zuſammen, und
ſuchte ſich zu orientieren, aber es war vergeb¬
lich — er konnte die lange Kirchhofsmauer aus
dem Zuſammenhange der uͤbrigen Gegenſtaͤnde
nicht erklaͤren; ſie war und blieb ihm eine Er¬
ſcheinung, welche ihn eine Zeitlang wirklich zwei¬
feln ließ, ob er wache oder traͤume — er rieb
ſich die Augen — aber die lange Kirchhofsmauer
blieb immer da — uͤberdem war auch durch ſein
ſonderbares Nichtwandern, und durch das Wegfal¬
len der gewohnten Pauſe, wodurch die Vorſtellun¬
gen des Tages der Natur gemaͤß unterbrochen
werden, ſeine Phantaſie zerruͤttet — er fing
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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/242>, abgerufen am 16.02.2025.
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