genehm, wenn seine Mitschüler sich bei ihm er¬ kundigten, wo das Gedicht, das er deklamirt hätte, stünde, und er ihnen dann irgend einen Dichter nannte, woraus er es abgeschrieben habe. --
Reiser bat sich vom Direktor die Erlaubniß aus, in der künftigen Woche nocheinmal dekla¬ miren zu dürfen, und da er diese erhielt, änderte er das Gedicht an Philipp Reisern Dir Freund will ich mein Leiden klagen etwas um, und gab ihm die Ueberschrift: die Melancholie. -- Er ließ diß Gedicht nun anfangen:
Der Seele Leiden will ich klagen -- Könnt ihr es, Worte, halb nur sagen, O sagt's und lindert meinen Schmerz!
Die letzte Strophe:
Wem soll ich dieses Daseyn danken? Wer setzt ihm diese engen Schranken? Aus welchem Chaos stiegs empor? In welche gräuelvolle Nächte, Sinkts, wenn des Schicksals ehrne Rechte Mir winket zu des Todes Thor?
H 4
genehm, wenn ſeine Mitſchuͤler ſich bei ihm er¬ kundigten, wo das Gedicht, das er deklamirt haͤtte, ſtuͤnde, und er ihnen dann irgend einen Dichter nannte, woraus er es abgeſchrieben habe. —
Reiſer bat ſich vom Direktor die Erlaubniß aus, in der kuͤnftigen Woche nocheinmal dekla¬ miren zu duͤrfen, und da er dieſe erhielt, aͤnderte er das Gedicht an Philipp Reiſern Dir Freund will ich mein Leiden klagen etwas um, und gab ihm die Ueberſchrift: die Melancholie. — Er ließ diß Gedicht nun anfangen:
Der Seele Leiden will ich klagen — Koͤnnt ihr es, Worte, halb nur ſagen, O ſagt's und lindert meinen Schmerz!
Die letzte Strophe:
Wem ſoll ich dieſes Daſeyn danken? Wer ſetzt ihm dieſe engen Schranken? Aus welchem Chaos ſtiegs empor? In welche graͤuelvolle Naͤchte, Sinkts, wenn des Schickſals ehrne Rechte Mir winket zu des Todes Thor?
H 4
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0129"n="119"/>
genehm, wenn ſeine Mitſchuͤler ſich bei ihm er¬<lb/>
kundigten, wo das Gedicht, das er deklamirt<lb/>
haͤtte, ſtuͤnde, und er ihnen dann irgend einen<lb/>
Dichter nannte, woraus er es abgeſchrieben<lb/>
habe. —</p><lb/><p>Reiſer bat ſich vom Direktor die Erlaubniß<lb/>
aus, in der kuͤnftigen Woche nocheinmal dekla¬<lb/>
miren zu duͤrfen, und da er dieſe erhielt, aͤnderte<lb/>
er das Gedicht an Philipp Reiſern<lb/><hirendition="#c">Dir Freund will ich mein Leiden<lb/>
klagen</hi><lb/>
etwas um, und gab ihm die Ueberſchrift: <hirendition="#fr">die<lb/>
Melancholie</hi>. — Er ließ diß Gedicht nun<lb/>
anfangen:<lb/><lgtype="poem"><l>Der Seele Leiden will ich klagen —</l><lb/><l>Koͤnnt ihr es, Worte, halb nur ſagen,</l><lb/><l>O ſagt's und lindert meinen Schmerz!</l><lb/></lg> Die letzte Strophe:<lb/><lgtype="poem"><l>Wem ſoll ich dieſes Daſeyn danken?</l><lb/><l>Wer ſetzt ihm dieſe engen Schranken?</l><lb/><l>Aus welchem Chaos ſtiegs empor?</l><lb/><l>In welche graͤuelvolle Naͤchte,</l><lb/><l>Sinkts, wenn des Schickſals ehrne Rechte</l><lb/><l>Mir winket zu des Todes Thor?</l><lb/></lg><fwplace="bottom"type="sig">H 4<lb/></fw></p></body></text></TEI>
[119/0129]
genehm, wenn ſeine Mitſchuͤler ſich bei ihm er¬
kundigten, wo das Gedicht, das er deklamirt
haͤtte, ſtuͤnde, und er ihnen dann irgend einen
Dichter nannte, woraus er es abgeſchrieben
habe. —
Reiſer bat ſich vom Direktor die Erlaubniß
aus, in der kuͤnftigen Woche nocheinmal dekla¬
miren zu duͤrfen, und da er dieſe erhielt, aͤnderte
er das Gedicht an Philipp Reiſern
Dir Freund will ich mein Leiden
klagen
etwas um, und gab ihm die Ueberſchrift: die
Melancholie. — Er ließ diß Gedicht nun
anfangen:
Der Seele Leiden will ich klagen —
Koͤnnt ihr es, Worte, halb nur ſagen,
O ſagt's und lindert meinen Schmerz!
Die letzte Strophe:
Wem ſoll ich dieſes Daſeyn danken?
Wer ſetzt ihm dieſe engen Schranken?
Aus welchem Chaos ſtiegs empor?
In welche graͤuelvolle Naͤchte,
Sinkts, wenn des Schickſals ehrne Rechte
Mir winket zu des Todes Thor?
H 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/129>, abgerufen am 17.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.