der Betrachtung unseres eignen Körpers wird, den wir nicht so von den Gedanken, womit wir ihn uns vorstellen, trennen können, und ihn also über diese Gedanken vergessen.
Nichts aber fühlte Reiser lebhafter, als wenn Werther erzählt, daß sein kaltes freudenloses Daseyn neben Lotten in gräßlicher Kälte ihn anpackte. -- Diß war gerade, was Reiser empfand, da er einmal auf der Straße sich selbst zu entfliehen wünschte, und nicht konnte, und auf einmal die ganze Last seines Daseyns fühlte, mit der man einen und alle Tage aufstehen und sich niederlegen muß. -- Der Gedanke wurde ihm damals ebenfalls unerträglich, und führte ihn mit schnellen Schritten an den Fluß, wo er die unerträgliche Bürde dieses elenden Daseyns abwerfen wollte -- und wo seine Uhr auch noch nicht ausgelaufen war. --
Kurz, Reiser glaubte sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen, bis auf den Punkt der Liebe, im Werther wieder zu finden. -- "Laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nä¬ hern finden kannst." -- An diesen Worten
dachte
der Betrachtung unſeres eignen Koͤrpers wird, den wir nicht ſo von den Gedanken, womit wir ihn uns vorſtellen, trennen koͤnnen, und ihn alſo uͤber dieſe Gedanken vergeſſen.
Nichts aber fuͤhlte Reiſer lebhafter, als wenn Werther erzaͤhlt, daß ſein kaltes freudenloſes Daſeyn neben Lotten in graͤßlicher Kaͤlte ihn anpackte. — Diß war gerade, was Reiſer empfand, da er einmal auf der Straße ſich ſelbſt zu entfliehen wuͤnſchte, und nicht konnte, und auf einmal die ganze Laſt ſeines Daſeyns fuͤhlte, mit der man einen und alle Tage aufſtehen und ſich niederlegen muß. — Der Gedanke wurde ihm damals ebenfalls unertraͤglich, und fuͤhrte ihn mit ſchnellen Schritten an den Fluß, wo er die unertraͤgliche Buͤrde dieſes elenden Daſeyns abwerfen wollte — und wo ſeine Uhr auch noch nicht ausgelaufen war. —
Kurz, Reiſer glaubte ſich mit allen ſeinen Gedanken und Empfindungen, bis auf den Punkt der Liebe, im Werther wieder zu finden. — „Laß das Buͤchlein deinen Freund ſeyn, wenn du aus Geſchick oder eigner Schuld keinen naͤ¬ hern finden kannſt.“ — An dieſen Worten
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der Betrachtung unſeres eignen Koͤrpers wird,
den wir nicht ſo von den Gedanken, womit wir
ihn uns vorſtellen, trennen koͤnnen, und ihn
alſo uͤber dieſe Gedanken vergeſſen.
Nichts aber fuͤhlte Reiſer lebhafter, als wenn
Werther erzaͤhlt, daß ſein kaltes freudenloſes
Daſeyn neben Lotten in graͤßlicher Kaͤlte
ihn anpackte. — Diß war gerade, was Reiſer
empfand, da er einmal auf der Straße ſich ſelbſt
zu entfliehen wuͤnſchte, und nicht konnte, und
auf einmal die ganze Laſt ſeines Daſeyns fuͤhlte,
mit der man einen und alle Tage aufſtehen und
ſich niederlegen muß. — Der Gedanke wurde
ihm damals ebenfalls unertraͤglich, und fuͤhrte
ihn mit ſchnellen Schritten an den Fluß, wo er
die unertraͤgliche Buͤrde dieſes elenden Daſeyns
abwerfen wollte — und wo ſeine Uhr auch
noch nicht ausgelaufen war. —
Kurz, Reiſer glaubte ſich mit allen ſeinen
Gedanken und Empfindungen, bis auf den
Punkt der Liebe, im Werther wieder zu finden.
— „Laß das Buͤchlein deinen Freund ſeyn, wenn
du aus Geſchick oder eigner Schuld keinen naͤ¬
hern finden kannſt.“ — An dieſen Worten
dachte
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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 3. Berlin, 1786, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser03_1786/106>, abgerufen am 17.02.2025.
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