wie zwanzig Bücher lesen -- sein beleidigter Stolz hatte sich noch zum letztenmal empört, und war nun besigt -- Reiser nahm von diesem Augenblick an keine Rücksicht mehr auf sich selbst -- und warf sich in Ansehung seiner äußern Verhält¬ nisse völlig weg. --
Seine Kleidung, die immer schlechter und unordentlicher wurde, kümmerte ihn nicht mehr.
In der Schule, im Chore, und wenn er auf der Straße gieng, dachte er sich mitten un¬ ter Menschen, wie allein -- denn keiner war, der sich um ihn bekümmerte oder an ihm Theil nahm -- Sein eignes äußres Schicksal war ihm daher, so verächtlich so niedrig, und so unbedeu¬ tend geworden, daß er aus sich selbst nichts mehr machte -- an dem Schicksal einer Miß Sara Sampson, einer Julie und Romeos hin¬ gegen konnte er den lebhaftesten Antheil nehmen; damit trug er sich oft den ganzen Tag herum.
Nichts war ihm unausstehlicher, als, wenn die Lehrstunden geendigt waren, sich beim Her¬ ausgehen unter dem Schwarm seiner insgesammt besser gekleideten, muntern und lebhaftern Mit¬ schüler, zu befinden, von denen ihn keiner mehr
wie zwanzig Buͤcher leſen — ſein beleidigter Stolz hatte ſich noch zum letztenmal empoͤrt, und war nun beſigt — Reiſer nahm von dieſem Augenblick an keine Ruͤckſicht mehr auf ſich ſelbſt — und warf ſich in Anſehung ſeiner aͤußern Verhaͤlt¬ niſſe voͤllig weg. —
Seine Kleidung, die immer ſchlechter und unordentlicher wurde, kuͤmmerte ihn nicht mehr.
In der Schule, im Chore, und wenn er auf der Straße gieng, dachte er ſich mitten un¬ ter Menſchen, wie allein — denn keiner war, der ſich um ihn bekuͤmmerte oder an ihm Theil nahm — Sein eignes aͤußres Schickſal war ihm daher, ſo veraͤchtlich ſo niedrig, und ſo unbedeu¬ tend geworden, daß er aus ſich ſelbſt nichts mehr machte — an dem Schickſal einer Miß Sara Sampſon, einer Julie und Romeos hin¬ gegen konnte er den lebhafteſten Antheil nehmen; damit trug er ſich oft den ganzen Tag herum.
Nichts war ihm unausſtehlicher, als, wenn die Lehrſtunden geendigt waren, ſich beim Her¬ ausgehen unter dem Schwarm ſeiner insgeſammt beſſer gekleideten, muntern und lebhaftern Mit¬ ſchuͤler, zu befinden, von denen ihn keiner mehr
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wie zwanzig Buͤcher leſen — ſein beleidigter Stolz
hatte ſich noch zum letztenmal empoͤrt, und war
nun beſigt — Reiſer nahm von dieſem Augenblick
an keine Ruͤckſicht mehr auf ſich ſelbſt — und
warf ſich in Anſehung ſeiner aͤußern Verhaͤlt¬
niſſe voͤllig weg. —
Seine Kleidung, die immer ſchlechter und
unordentlicher wurde, kuͤmmerte ihn nicht mehr.
In der Schule, im Chore, und wenn er
auf der Straße gieng, dachte er ſich mitten un¬
ter Menſchen, wie allein — denn keiner war,
der ſich um ihn bekuͤmmerte oder an ihm Theil
nahm — Sein eignes aͤußres Schickſal war ihm
daher, ſo veraͤchtlich ſo niedrig, und ſo unbedeu¬
tend geworden, daß er aus ſich ſelbſt nichts
mehr machte — an dem Schickſal einer Miß
Sara Sampſon, einer Julie und Romeos hin¬
gegen konnte er den lebhafteſten Antheil nehmen;
damit trug er ſich oft den ganzen Tag herum.
Nichts war ihm unausſtehlicher, als, wenn
die Lehrſtunden geendigt waren, ſich beim Her¬
ausgehen unter dem Schwarm ſeiner insgeſammt
beſſer gekleideten, muntern und lebhaftern Mit¬
ſchuͤler, zu befinden, von denen ihn keiner mehr
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Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Bd. 2. Berlin, 1786, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_reiser02_1786/160>, abgerufen am 16.02.2025.
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