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Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig, 1788.

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eins zu seyn strebt, weil es in dem Schönen das
Ganze erkennt, von dem es selber nur ein Theil ist.

Indem nun aber das Schöne alles Mangelhafte von
sich ausschliesst, und alles Wirkliche in sich begreift,
ohne doch alles Wirkliche selbst zu seyn, findet es,
selbst da, wo es wirklich ist, für jedes Individuum,
das mit ihm nicht eins werden kann, immer nur in
der Erscheinung statt.

Wenn nun bei diesem Individuum die Empfindung
die Thatkraft überwiegt, und also die Thatkraft durch
Zerstöhrung sich nicht rächen kann; so muss das Indivi¬
duum für den Raub, den es durch die Erkenntniss
des ihm unerreichbaren Schönen, an seiner Individua¬
lität begangen hat, mit Höllenquaalen büssen.

Sysiphus wälzt den Stein -- Tantalus lechzt nach
der von seinen Lippen ewig weichenden Fluth. --

Allein die Qualen sind nur dem Individuum schreck¬
lich, und werden in der Gattung schön sobald

daher die Gattung in dem Individuum sich vollendet,
lösst sein Leiden sich von ihm ab, und geht in die Er¬
scheinung, die Empfindung geht in die Bildung
über -- was von dem bildenden Wesen sich zerstöhrt,
ist sein Phantom -- das veredelte Daseyn bleibt zurück.

Eben

eins zu ſeyn ſtrebt, weil es in dem Schönen das
Ganze erkennt, von dem es ſelber nur ein Theil iſt.

Indem nun aber das Schöne alles Mangelhafte von
ſich ausſchlieſst, und alles Wirkliche in ſich begreift,
ohne doch alles Wirkliche ſelbſt zu ſeyn, findet es,
ſelbſt da, wo es wirklich iſt, für jedes Individuum,
das mit ihm nicht eins werden kann, immer nur in
der Erſcheinung ſtatt.

Wenn nun bei dieſem Individuum die Empfindung
die Thatkraft überwiegt, und alſo die Thatkraft durch
Zerſtöhrung ſich nicht rächen kann; ſo muſs das Indivi¬
duum für den Raub, den es durch die Erkenntniſs
des ihm unerreichbaren Schönen, an ſeiner Individua¬
lität begangen hat, mit Höllenquaalen büsſen.

Syſiphus wälzt den Stein — Tantalus lechzt nach
der von ſeinen Lippen ewig weichenden Fluth. —

Allein die Qualen ſind nur dem Individuum ſchreck¬
lich, und werden in der Gattung ſchön ſobald

daher die Gattung in dem Individuum ſich vollendet,
löſst ſein Leiden ſich von ihm ab, und geht in die Er¬
ſcheinung, die Empfindung geht in die Bildung
über — was von dem bildenden Weſen ſich zerſtöhrt,
iſt ſein Phantom — das veredelte Daſeyn bleibt zurück.

Eben
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[47/0053] eins zu ſeyn ſtrebt, weil es in dem Schönen das Ganze erkennt, von dem es ſelber nur ein Theil iſt. Indem nun aber das Schöne alles Mangelhafte von ſich ausſchlieſst, und alles Wirkliche in ſich begreift, ohne doch alles Wirkliche ſelbſt zu ſeyn, findet es, ſelbſt da, wo es wirklich iſt, für jedes Individuum, das mit ihm nicht eins werden kann, immer nur in der Erſcheinung ſtatt. Wenn nun bei dieſem Individuum die Empfindung die Thatkraft überwiegt, und alſo die Thatkraft durch Zerſtöhrung ſich nicht rächen kann; ſo muſs das Indivi¬ duum für den Raub, den es durch die Erkenntniſs des ihm unerreichbaren Schönen, an ſeiner Individua¬ lität begangen hat, mit Höllenquaalen büsſen. Syſiphus wälzt den Stein — Tantalus lechzt nach der von ſeinen Lippen ewig weichenden Fluth. — Allein die Qualen ſind nur dem Individuum ſchreck¬ lich, und werden in der Gattung ſchön ſobald daher die Gattung in dem Individuum ſich vollendet, löſst ſein Leiden ſich von ihm ab, und geht in die Er¬ ſcheinung, die Empfindung geht in die Bildung über — was von dem bildenden Weſen ſich zerſtöhrt, iſt ſein Phantom — das veredelte Daſeyn bleibt zurück. Eben

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig, 1788, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_nachahmung_1788/53>, abgerufen am 24.11.2024.