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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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bringen, wo seine Freunde und Brüder ihn
beweinen.

Dem Ulysses ist vom Schicksal bestimmt, nach
der Zerstörung von Troja zehn Jahre umher zu
irren, und ohne seine Gefährten, nach vielen Kum-
mer, in seine Heimath wieder zurückzukehren. --
Und gerade da, wo alles am angenehmsten und
einladendsten scheinet, lauert immer die meiste Ge-
fahr; wie in dem ruhigen Hafen der Lästrigonen;
bei dem Gesange der Sirenen, und beim Zauber-
trank der Circe. --

Ulysses mag das Ziel seiner Wünsche noch so
nahe vor sich sehen, so wird er doch immer wieder
weit davon verschlagen; seine Thränen und seine
heißesten Wünsche sind vergebens, -- bis endlich,
da es das Schicksal will, die Phäazier, auf
ihrem Schiffe, ihn schlafend in seine Heimath
bringen.

An die Vorstellung von den Parzen schloß sich
in der Phantasie der Alten das Bild von den rä-
cherischen Furien an, und diese beiden Dichtungen
gehen zuweilen unmerklich ineinander über.

Auch die quälenden Furien sind furchtbare,
schreckliche und dennoch verehrte geheimnißvolle
Wesen; aus den Blutstropfen, welche bei der
ersten Gewaltthätigkeit, bei der Entmannung des
Uranos die Erde auffing, erzeugt; mit Schlan-
genhaaren, und Dolchen in den Händen; uner-

bringen, wo ſeine Freunde und Bruͤder ihn
beweinen.

Dem Ulyſſes iſt vom Schickſal beſtimmt, nach
der Zerſtoͤrung von Troja zehn Jahre umher zu
irren, und ohne ſeine Gefaͤhrten, nach vielen Kum-
mer, in ſeine Heimath wieder zuruͤckzukehren. —
Und gerade da, wo alles am angenehmſten und
einladendſten ſcheinet, lauert immer die meiſte Ge-
fahr; wie in dem ruhigen Hafen der Laͤſtrigonen;
bei dem Geſange der Sirenen, und beim Zauber-
trank der Circe. —

Ulyſſes mag das Ziel ſeiner Wuͤnſche noch ſo
nahe vor ſich ſehen, ſo wird er doch immer wieder
weit davon verſchlagen; ſeine Thraͤnen und ſeine
heißeſten Wuͤnſche ſind vergebens, — bis endlich,
da es das Schickſal will, die Phaͤazier, auf
ihrem Schiffe, ihn ſchlafend in ſeine Heimath
bringen.

An die Vorſtellung von den Parzen ſchloß ſich
in der Phantaſie der Alten das Bild von den raͤ-
cheriſchen Furien an, und dieſe beiden Dichtungen
gehen zuweilen unmerklich ineinander uͤber.

Auch die quaͤlenden Furien ſind furchtbare,
ſchreckliche und dennoch verehrte geheimnißvolle
Weſen; aus den Blutstropfen, welche bei der
erſten Gewaltthaͤtigkeit, bei der Entmannung des
Uranos die Erde auffing, erzeugt; mit Schlan-
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[50/0074] bringen, wo ſeine Freunde und Bruͤder ihn beweinen. Dem Ulyſſes iſt vom Schickſal beſtimmt, nach der Zerſtoͤrung von Troja zehn Jahre umher zu irren, und ohne ſeine Gefaͤhrten, nach vielen Kum- mer, in ſeine Heimath wieder zuruͤckzukehren. — Und gerade da, wo alles am angenehmſten und einladendſten ſcheinet, lauert immer die meiſte Ge- fahr; wie in dem ruhigen Hafen der Laͤſtrigonen; bei dem Geſange der Sirenen, und beim Zauber- trank der Circe. — Ulyſſes mag das Ziel ſeiner Wuͤnſche noch ſo nahe vor ſich ſehen, ſo wird er doch immer wieder weit davon verſchlagen; ſeine Thraͤnen und ſeine heißeſten Wuͤnſche ſind vergebens, — bis endlich, da es das Schickſal will, die Phaͤazier, auf ihrem Schiffe, ihn ſchlafend in ſeine Heimath bringen. An die Vorſtellung von den Parzen ſchloß ſich in der Phantaſie der Alten das Bild von den raͤ- cheriſchen Furien an, und dieſe beiden Dichtungen gehen zuweilen unmerklich ineinander uͤber. Auch die quaͤlenden Furien ſind furchtbare, ſchreckliche und dennoch verehrte geheimnißvolle Weſen; aus den Blutstropfen, welche bei der erſten Gewaltthaͤtigkeit, bei der Entmannung des Uranos die Erde auffing, erzeugt; mit Schlan- genhaaren, und Dolchen in den Haͤnden; uner-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/74>, abgerufen am 24.11.2024.