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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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Einst wurden die Musen von den Sirenen
zum Wettstreit im Singen aufgefordert, und als
sie jene mit leichter Mühe besiegten, so war die
Strafe der Vermeßnen, daß die Musen ihnen die
Federn aus den Flügeln rupften, und solche nach-
her zum Zeichen ihres Sieges auf den Köpfen tru-
gen. Man findet daher die Musen zum öftern
mit diesem Hauptschmuck gebildet.

Auf einem alten Denkmale ist eine Sirene
dargestellt, bis auf die Mitte des Leibes wie eine
Jungfrau, nach unten zu wie ein Vogel gestaltet,
mit großen Flügeln auf dem Rücken, zwei Flöten
in den Händen, und sich betrübt nach der Muse
umsehend, welche stolz auf ihren Sieg, mit der
einen Hand den Flügel der Sirene hält, indeß sie
mit der andern ihr die Federn ausrupft.

Der Gesang der Musen war treu und wahr;
falsch und verführerisch aber die schmeichelnden Lie-
der der Sirenen, womit sie die Vorbeischiffenden
an ihr Ufer in Tod und Verderben lockten; -- so
wie auch ihre jungfräuliche Gestalt in das Unge-
heure sich verlohr. -- Die Dichtung von dem
Siege der Musen über die Sirenen ist daher schön
und bedeutend!

Ueberhaupt lassen die alten Dichtungen gegen
angemaßte Kunsttalente immer ein sehr strenges
Urtheil ergehen. Der Satyr Marsyas wurde

Einſt wurden die Muſen von den Sirenen
zum Wettſtreit im Singen aufgefordert, und als
ſie jene mit leichter Muͤhe beſiegten, ſo war die
Strafe der Vermeßnen, daß die Muſen ihnen die
Federn aus den Fluͤgeln rupften, und ſolche nach-
her zum Zeichen ihres Sieges auf den Koͤpfen tru-
gen. Man findet daher die Muſen zum oͤftern
mit dieſem Hauptſchmuck gebildet.

Auf einem alten Denkmale iſt eine Sirene
dargeſtellt, bis auf die Mitte des Leibes wie eine
Jungfrau, nach unten zu wie ein Vogel geſtaltet,
mit großen Fluͤgeln auf dem Ruͤcken, zwei Floͤten
in den Haͤnden, und ſich betruͤbt nach der Muſe
umſehend, welche ſtolz auf ihren Sieg, mit der
einen Hand den Fluͤgel der Sirene haͤlt, indeß ſie
mit der andern ihr die Federn ausrupft.

Der Geſang der Muſen war treu und wahr;
falſch und verfuͤhreriſch aber die ſchmeichelnden Lie-
der der Sirenen, womit ſie die Vorbeiſchiffenden
an ihr Ufer in Tod und Verderben lockten; — ſo
wie auch ihre jungfraͤuliche Geſtalt in das Unge-
heure ſich verlohr. — Die Dichtung von dem
Siege der Muſen uͤber die Sirenen iſt daher ſchoͤn
und bedeutend!

Ueberhaupt laſſen die alten Dichtungen gegen
angemaßte Kunſttalente immer ein ſehr ſtrenges
Urtheil ergehen. Der Satyr Marſyas wurde

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[306/0364] Einſt wurden die Muſen von den Sirenen zum Wettſtreit im Singen aufgefordert, und als ſie jene mit leichter Muͤhe beſiegten, ſo war die Strafe der Vermeßnen, daß die Muſen ihnen die Federn aus den Fluͤgeln rupften, und ſolche nach- her zum Zeichen ihres Sieges auf den Koͤpfen tru- gen. Man findet daher die Muſen zum oͤftern mit dieſem Hauptſchmuck gebildet. Auf einem alten Denkmale iſt eine Sirene dargeſtellt, bis auf die Mitte des Leibes wie eine Jungfrau, nach unten zu wie ein Vogel geſtaltet, mit großen Fluͤgeln auf dem Ruͤcken, zwei Floͤten in den Haͤnden, und ſich betruͤbt nach der Muſe umſehend, welche ſtolz auf ihren Sieg, mit der einen Hand den Fluͤgel der Sirene haͤlt, indeß ſie mit der andern ihr die Federn ausrupft. Der Geſang der Muſen war treu und wahr; falſch und verfuͤhreriſch aber die ſchmeichelnden Lie- der der Sirenen, womit ſie die Vorbeiſchiffenden an ihr Ufer in Tod und Verderben lockten; — ſo wie auch ihre jungfraͤuliche Geſtalt in das Unge- heure ſich verlohr. — Die Dichtung von dem Siege der Muſen uͤber die Sirenen iſt daher ſchoͤn und bedeutend! Ueberhaupt laſſen die alten Dichtungen gegen angemaßte Kunſttalente immer ein ſehr ſtrenges Urtheil ergehen. Der Satyr Marſyas wurde

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/364>, abgerufen am 30.11.2024.