Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Dädalus, über die Fortschritte seines Lehr-
lings eifersüchtig, warf einen tödtlichen Haß auf
ihn. -- Der grausamste Künstlerneid war schon
mit der ersten Entstehung der Kunst verwebt. --
Dädalus führte den Jüngling auf eine steile An-
höhe, wovon er, ehe jener es sich versahe, ihn
hinunterstürzte, und so den Talus durch seinen
Fall für die Erfindungen büßen ließ, womit er sei-
nen Meister überfliegen wollte.

Als die grausame That des Dädalus kund
wurde, ward er zum Tode verdammt, und mußte
aus Athen entfliehen, worauf er erst eine Zeitlang
flüchtig umher irrte, bis er in Kreta bei dem Kö-
nige Minos, dem er das Labyrinth erbaute, eine
Zuflucht fand.

Als Minos aber nachher den Dädalus mit
seinem Sohn Ikarus in dem von dem Künstler
selbst erbauten Labyrinthe gefangen hielt; so
strebte die eingehemmte Kunst, selbst das Unmög-
liche zu versuchen, und weil nur ein Ausgang nach
oben war, mit angesetzten künstlichen Flü-
geln
sich in die Lüfte emporzuheben. Dädalus
suchte mit klebenden Wachs die Fugen der Flügel
zu verbinden, und legte sie sich und seinem Sohn
an, den er vorher sich üben ließ, allmälig sich
emporzuschwingen.

Als sie nun die Reise durch die Luft antraten,
warnte Dädalus seinen Sohn, ja nicht zu hoch

Daͤdalus, uͤber die Fortſchritte ſeines Lehr-
lings eiferſuͤchtig, warf einen toͤdtlichen Haß auf
ihn. — Der grauſamſte Kuͤnſtlerneid war ſchon
mit der erſten Entſtehung der Kunſt verwebt. —
Daͤdalus fuͤhrte den Juͤngling auf eine ſteile An-
hoͤhe, wovon er, ehe jener es ſich verſahe, ihn
hinunterſtuͤrzte, und ſo den Talus durch ſeinen
Fall fuͤr die Erfindungen buͤßen ließ, womit er ſei-
nen Meiſter uͤberfliegen wollte.

Als die grauſame That des Daͤdalus kund
wurde, ward er zum Tode verdammt, und mußte
aus Athen entfliehen, worauf er erſt eine Zeitlang
fluͤchtig umher irrte, bis er in Kreta bei dem Koͤ-
nige Minos, dem er das Labyrinth erbaute, eine
Zuflucht fand.

Als Minos aber nachher den Daͤdalus mit
ſeinem Sohn Ikarus in dem von dem Kuͤnſtler
ſelbſt erbauten Labyrinthe gefangen hielt; ſo
ſtrebte die eingehemmte Kunſt, ſelbſt das Unmoͤg-
liche zu verſuchen, und weil nur ein Ausgang nach
oben war, mit angeſetzten kuͤnſtlichen Fluͤ-
geln
ſich in die Luͤfte emporzuheben. Daͤdalus
ſuchte mit klebenden Wachs die Fugen der Fluͤgel
zu verbinden, und legte ſie ſich und ſeinem Sohn
an, den er vorher ſich uͤben ließ, allmaͤlig ſich
emporzuſchwingen.

Als ſie nun die Reiſe durch die Luft antraten,
warnte Daͤdalus ſeinen Sohn, ja nicht zu hoch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0341" n="285"/>
          <p>Da&#x0364;dalus, u&#x0364;ber die Fort&#x017F;chritte &#x017F;eines Lehr-<lb/>
lings eifer&#x017F;u&#x0364;chtig, warf einen to&#x0364;dtlichen Haß auf<lb/>
ihn. &#x2014; Der grau&#x017F;am&#x017F;te <hi rendition="#fr">Ku&#x0364;n&#x017F;tlerneid</hi> war &#x017F;chon<lb/>
mit der er&#x017F;ten Ent&#x017F;tehung der Kun&#x017F;t verwebt. &#x2014;<lb/>
Da&#x0364;dalus fu&#x0364;hrte den Ju&#x0364;ngling auf eine &#x017F;teile An-<lb/>
ho&#x0364;he, wovon er, ehe jener es &#x017F;ich ver&#x017F;ahe, ihn<lb/>
hinunter&#x017F;tu&#x0364;rzte, und &#x017F;o den <hi rendition="#fr">Talus</hi> durch &#x017F;einen<lb/>
Fall fu&#x0364;r die Erfindungen bu&#x0364;ßen ließ, womit er &#x017F;ei-<lb/>
nen Mei&#x017F;ter u&#x0364;berfliegen wollte.</p><lb/>
          <p>Als die grau&#x017F;ame That des Da&#x0364;dalus kund<lb/>
wurde, ward er zum Tode verdammt, und mußte<lb/>
aus Athen entfliehen, worauf er er&#x017F;t eine Zeitlang<lb/>
flu&#x0364;chtig umher irrte, bis er in Kreta bei dem Ko&#x0364;-<lb/>
nige Minos, dem er das <hi rendition="#fr">Labyrinth</hi> erbaute, eine<lb/>
Zuflucht fand.</p><lb/>
          <p>Als Minos aber nachher den Da&#x0364;dalus mit<lb/>
&#x017F;einem Sohn <hi rendition="#fr">Ikarus</hi> in dem von dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t erbauten Labyrinthe gefangen hielt; &#x017F;o<lb/>
&#x017F;trebte die eingehemmte Kun&#x017F;t, &#x017F;elb&#x017F;t das Unmo&#x0364;g-<lb/>
liche zu ver&#x017F;uchen, und weil nur ein Ausgang nach<lb/>
oben war, mit <hi rendition="#fr">ange&#x017F;etzten ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Flu&#x0364;-<lb/>
geln</hi> &#x017F;ich in die Lu&#x0364;fte emporzuheben. Da&#x0364;dalus<lb/>
&#x017F;uchte mit klebenden Wachs die Fugen der Flu&#x0364;gel<lb/>
zu verbinden, und legte &#x017F;ie &#x017F;ich und &#x017F;einem Sohn<lb/>
an, den er vorher &#x017F;ich u&#x0364;ben ließ, allma&#x0364;lig &#x017F;ich<lb/>
emporzu&#x017F;chwingen.</p><lb/>
          <p>Als &#x017F;ie nun die Rei&#x017F;e durch die Luft antraten,<lb/>
warnte Da&#x0364;dalus &#x017F;einen Sohn, ja nicht zu hoch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[285/0341] Daͤdalus, uͤber die Fortſchritte ſeines Lehr- lings eiferſuͤchtig, warf einen toͤdtlichen Haß auf ihn. — Der grauſamſte Kuͤnſtlerneid war ſchon mit der erſten Entſtehung der Kunſt verwebt. — Daͤdalus fuͤhrte den Juͤngling auf eine ſteile An- hoͤhe, wovon er, ehe jener es ſich verſahe, ihn hinunterſtuͤrzte, und ſo den Talus durch ſeinen Fall fuͤr die Erfindungen buͤßen ließ, womit er ſei- nen Meiſter uͤberfliegen wollte. Als die grauſame That des Daͤdalus kund wurde, ward er zum Tode verdammt, und mußte aus Athen entfliehen, worauf er erſt eine Zeitlang fluͤchtig umher irrte, bis er in Kreta bei dem Koͤ- nige Minos, dem er das Labyrinth erbaute, eine Zuflucht fand. Als Minos aber nachher den Daͤdalus mit ſeinem Sohn Ikarus in dem von dem Kuͤnſtler ſelbſt erbauten Labyrinthe gefangen hielt; ſo ſtrebte die eingehemmte Kunſt, ſelbſt das Unmoͤg- liche zu verſuchen, und weil nur ein Ausgang nach oben war, mit angeſetzten kuͤnſtlichen Fluͤ- geln ſich in die Luͤfte emporzuheben. Daͤdalus ſuchte mit klebenden Wachs die Fugen der Fluͤgel zu verbinden, und legte ſie ſich und ſeinem Sohn an, den er vorher ſich uͤben ließ, allmaͤlig ſich emporzuſchwingen. Als ſie nun die Reiſe durch die Luft antraten, warnte Daͤdalus ſeinen Sohn, ja nicht zu hoch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/341
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/341>, abgerufen am 28.11.2024.