Weil aber die Phantasie die allgemeinen Begriffe fliehet, und ihre Bildungen, so viel wie möglich, individuell zu machen sucht, so überträgt sie den Begriff der höhern obwalten- den Macht auf Wesen, die sie als wirklich dar- stellt, denen sie Geschlechtsregister, Geburt und Nahmen, und menschliche Gestalt bei- legt.
Sie läßt so viel wie möglich die Wesen, die sie schaft, in das Reich der Wirklichkeit spielen. Die Götter vermählen sich mit den Töchtern der Menschen, und erzeugen mit ih- nen die Helden, welche durch kühne Thaten zur Unsterblichkeit reifen.
Hier ist es nun, wo das Gebiet der Phan- tasie und der Wirklichkeit am nächsten aneinan- der grenzt, und wo es darauf ankommt, das, was Sprache der Phantasie oder mythologi- sche Dichtung ist, auch bloß als solche zu be- trachten, und vor allen voreiligen historischen Ausdeutungen sich zu hüten.
Denn diese Mischung des Wahren, mit der Dichtung in der ältesten Geschichte, macht an unserm Gesichtskreise, so weit wir in die
Weil aber die Phantaſie die allgemeinen Begriffe fliehet, und ihre Bildungen, ſo viel wie moͤglich, individuell zu machen ſucht, ſo uͤbertraͤgt ſie den Begriff der hoͤhern obwalten- den Macht auf Weſen, die ſie als wirklich dar- ſtellt, denen ſie Geſchlechtsregiſter, Geburt und Nahmen, und menſchliche Geſtalt bei- legt.
Sie laͤßt ſo viel wie moͤglich die Weſen, die ſie ſchaft, in das Reich der Wirklichkeit ſpielen. Die Goͤtter vermaͤhlen ſich mit den Toͤchtern der Menſchen, und erzeugen mit ih- nen die Helden, welche durch kuͤhne Thaten zur Unſterblichkeit reifen.
Hier iſt es nun, wo das Gebiet der Phan- taſie und der Wirklichkeit am naͤchſten aneinan- der grenzt, und wo es darauf ankommt, das, was Sprache der Phantaſie oder mythologi- ſche Dichtung iſt, auch bloß als ſolche zu be- trachten, und vor allen voreiligen hiſtoriſchen Ausdeutungen ſich zu huͤten.
Denn dieſe Miſchung des Wahren, mit der Dichtung in der aͤlteſten Geſchichte, macht an unſerm Geſichtskreiſe, ſo weit wir in die
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Weil aber die Phantaſie die allgemeinen
Begriffe fliehet, und ihre Bildungen, ſo viel
wie moͤglich, individuell zu machen ſucht, ſo
uͤbertraͤgt ſie den Begriff der hoͤhern obwalten-
den Macht auf Weſen, die ſie als wirklich dar-
ſtellt, denen ſie Geſchlechtsregiſter, Geburt
und Nahmen, und menſchliche Geſtalt bei-
legt.
Sie laͤßt ſo viel wie moͤglich die Weſen,
die ſie ſchaft, in das Reich der Wirklichkeit
ſpielen. Die Goͤtter vermaͤhlen ſich mit den
Toͤchtern der Menſchen, und erzeugen mit ih-
nen die Helden, welche durch kuͤhne Thaten
zur Unſterblichkeit reifen.
Hier iſt es nun, wo das Gebiet der Phan-
taſie und der Wirklichkeit am naͤchſten aneinan-
der grenzt, und wo es darauf ankommt, das,
was Sprache der Phantaſie oder mythologi-
ſche Dichtung iſt, auch bloß als ſolche zu be-
trachten, und vor allen voreiligen hiſtoriſchen
Ausdeutungen ſich zu huͤten.
Denn dieſe Miſchung des Wahren, mit
der Dichtung in der aͤlteſten Geſchichte, macht
an unſerm Geſichtskreiſe, ſo weit wir in die
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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/28>, abgerufen am 24.11.2024.
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