Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite
Die heiligen Wohnplätze der Göt-
ter unter den Menschen.

Die Phantasie der Alten ließ ihre Dichtungen,
über der Wirklichkeit schwebend, allmälig sich vom
Himmel zur Erde niedersenken. -- Sie heiligte
die Plätze, wo, nach der Sage der Vorwelt, die
junge Gottheit neugebohren, zuerst in jugendlichem
Glanz hervortrat; oder wo ein Land oder eine
Insel so glücklich war, in ihrem Schooße ein
Götterkind zu pflegen. --

Sie weihte auch die Oerter, wo in Orakel-
sprüchen die Gottheit ihre Gegenwart offenbarte;
und jeder Platz, den irgend eine Gottheit, nach
der alten Sage, zu ihrem Lieblingsaufenthalte
sich wählte, ward in der Dichtersprache zu einem
schönen Nahmen, an welchen sich der Begriff der
Gottheit selber knüpfte, die unter irgend einer be-
sondern bedeutenden Gestalt auf diesem Fleck ver-
ehrt ward.

Nun fand die Einbildungskraft so viele Ruhe-
punkte, worauf sie sich heften konnte, als Tempel
waren, welche die Menschen den über den Wolken

M 2
Die heiligen Wohnplaͤtze der Goͤt-
ter unter den Menſchen.

Die Phantaſie der Alten ließ ihre Dichtungen,
uͤber der Wirklichkeit ſchwebend, allmaͤlig ſich vom
Himmel zur Erde niederſenken. — Sie heiligte
die Plaͤtze, wo, nach der Sage der Vorwelt, die
junge Gottheit neugebohren, zuerſt in jugendlichem
Glanz hervortrat; oder wo ein Land oder eine
Inſel ſo gluͤcklich war, in ihrem Schooße ein
Goͤtterkind zu pflegen. —

Sie weihte auch die Oerter, wo in Orakel-
ſpruͤchen die Gottheit ihre Gegenwart offenbarte;
und jeder Platz, den irgend eine Gottheit, nach
der alten Sage, zu ihrem Lieblingsaufenthalte
ſich waͤhlte, ward in der Dichterſprache zu einem
ſchoͤnen Nahmen, an welchen ſich der Begriff der
Gottheit ſelber knuͤpfte, die unter irgend einer be-
ſondern bedeutenden Geſtalt auf dieſem Fleck ver-
ehrt ward.

Nun fand die Einbildungskraft ſo viele Ruhe-
punkte, worauf ſie ſich heften konnte, als Tempel
waren, welche die Menſchen den uͤber den Wolken

M 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0227" n="179"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Die heiligen Wohnpla&#x0364;tze der Go&#x0364;t-<lb/>
ter unter den Men&#x017F;chen.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Phanta&#x017F;ie der Alten ließ ihre Dichtungen,<lb/>
u&#x0364;ber der Wirklichkeit &#x017F;chwebend, allma&#x0364;lig &#x017F;ich vom<lb/>
Himmel zur Erde nieder&#x017F;enken. &#x2014; Sie heiligte<lb/>
die Pla&#x0364;tze, wo, nach der Sage der Vorwelt, die<lb/>
junge Gottheit neugebohren, zuer&#x017F;t in jugendlichem<lb/>
Glanz hervortrat; oder wo ein Land oder eine<lb/>
In&#x017F;el &#x017F;o glu&#x0364;cklich war, in ihrem Schooße ein<lb/>
Go&#x0364;tterkind zu pflegen. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Sie weihte auch die Oerter, wo in Orakel-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;chen die Gottheit ihre Gegenwart offenbarte;<lb/>
und jeder Platz, den irgend eine Gottheit, nach<lb/>
der alten Sage, zu ihrem Lieblingsaufenthalte<lb/>
&#x017F;ich wa&#x0364;hlte, ward in der Dichter&#x017F;prache zu einem<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nen Nahmen, an welchen &#x017F;ich der Begriff der<lb/>
Gottheit &#x017F;elber knu&#x0364;pfte, die unter irgend einer be-<lb/>
&#x017F;ondern bedeutenden Ge&#x017F;talt auf die&#x017F;em Fleck ver-<lb/>
ehrt ward.</p><lb/>
        <p>Nun fand die Einbildungskraft &#x017F;o viele Ruhe-<lb/>
punkte, worauf &#x017F;ie &#x017F;ich heften konnte, als Tempel<lb/>
waren, welche die Men&#x017F;chen den u&#x0364;ber den Wolken<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 2</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0227] Die heiligen Wohnplaͤtze der Goͤt- ter unter den Menſchen. Die Phantaſie der Alten ließ ihre Dichtungen, uͤber der Wirklichkeit ſchwebend, allmaͤlig ſich vom Himmel zur Erde niederſenken. — Sie heiligte die Plaͤtze, wo, nach der Sage der Vorwelt, die junge Gottheit neugebohren, zuerſt in jugendlichem Glanz hervortrat; oder wo ein Land oder eine Inſel ſo gluͤcklich war, in ihrem Schooße ein Goͤtterkind zu pflegen. — Sie weihte auch die Oerter, wo in Orakel- ſpruͤchen die Gottheit ihre Gegenwart offenbarte; und jeder Platz, den irgend eine Gottheit, nach der alten Sage, zu ihrem Lieblingsaufenthalte ſich waͤhlte, ward in der Dichterſprache zu einem ſchoͤnen Nahmen, an welchen ſich der Begriff der Gottheit ſelber knuͤpfte, die unter irgend einer be- ſondern bedeutenden Geſtalt auf dieſem Fleck ver- ehrt ward. Nun fand die Einbildungskraft ſo viele Ruhe- punkte, worauf ſie ſich heften konnte, als Tempel waren, welche die Menſchen den uͤber den Wolken M 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/227
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/227>, abgerufen am 20.11.2024.