Sie scheuet den Begriff einer metaphysi- schen Unendlichkeit und Unumschränktheit am allermeisten, weil ihre zarten Schöpfungen, wie in einer öden Wüste, sich plötzlich darin verlieren würden.
Sie flieht den Begriff eines anfangslosen Daseyns; alles ist bei ihr Entstehung, Zeugen und Gebähren, bis in die älteste Götterge- schichte.
Keines der höhern Wesen, welche die Phantasie sich darstellt, ist von Ewigkeit; kei- nes von ganz unumschränkter Macht. Auch meidet die Phantasie den Begriff der Allgegen- wart, der das Leben und die Bewegung in ih- rer Götterwelt hemmen würde.
Sie sucht vielmehr so viel wie möglich, ihre Bildungen an Zeit und Ort zu knüpfen; sie ruht und schwebt gern über der Wirklich- keit; weil aber die zu große Nähe und Deut- lichkeit des Wirklichen ihrem dämmernden Lichte schaden würde, so schmiegt sie sich am liebsten an die dunkle Geschichte der Vorwelt an, wo Zeit und Ort oft selber noch schwan- kend und unbestimmt sind, und sie desto freiern
Sie ſcheuet den Begriff einer metaphyſi- ſchen Unendlichkeit und Unumſchraͤnktheit am allermeiſten, weil ihre zarten Schoͤpfungen, wie in einer oͤden Wuͤſte, ſich ploͤtzlich darin verlieren wuͤrden.
Sie flieht den Begriff eines anfangsloſen Daſeyns; alles iſt bei ihr Entſtehung, Zeugen und Gebaͤhren, bis in die aͤlteſte Goͤtterge- ſchichte.
Keines der hoͤhern Weſen, welche die Phantaſie ſich darſtellt, iſt von Ewigkeit; kei- nes von ganz unumſchraͤnkter Macht. Auch meidet die Phantaſie den Begriff der Allgegen- wart, der das Leben und die Bewegung in ih- rer Goͤtterwelt hemmen wuͤrde.
Sie ſucht vielmehr ſo viel wie moͤglich, ihre Bildungen an Zeit und Ort zu knuͤpfen; ſie ruht und ſchwebt gern uͤber der Wirklich- keit; weil aber die zu große Naͤhe und Deut- lichkeit des Wirklichen ihrem daͤmmernden Lichte ſchaden wuͤrde, ſo ſchmiegt ſie ſich am liebſten an die dunkle Geſchichte der Vorwelt an, wo Zeit und Ort oft ſelber noch ſchwan- kend und unbeſtimmt ſind, und ſie deſto freiern
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Sie ſcheuet den Begriff einer metaphyſi-
ſchen Unendlichkeit und Unumſchraͤnktheit am
allermeiſten, weil ihre zarten Schoͤpfungen,
wie in einer oͤden Wuͤſte, ſich ploͤtzlich darin
verlieren wuͤrden.
Sie flieht den Begriff eines anfangsloſen
Daſeyns; alles iſt bei ihr Entſtehung, Zeugen
und Gebaͤhren, bis in die aͤlteſte Goͤtterge-
ſchichte.
Keines der hoͤhern Weſen, welche die
Phantaſie ſich darſtellt, iſt von Ewigkeit; kei-
nes von ganz unumſchraͤnkter Macht. Auch
meidet die Phantaſie den Begriff der Allgegen-
wart, der das Leben und die Bewegung in ih-
rer Goͤtterwelt hemmen wuͤrde.
Sie ſucht vielmehr ſo viel wie moͤglich,
ihre Bildungen an Zeit und Ort zu knuͤpfen;
ſie ruht und ſchwebt gern uͤber der Wirklich-
keit; weil aber die zu große Naͤhe und Deut-
lichkeit des Wirklichen ihrem daͤmmernden
Lichte ſchaden wuͤrde, ſo ſchmiegt ſie ſich am
liebſten an die dunkle Geſchichte der Vorwelt
an, wo Zeit und Ort oft ſelber noch ſchwan-
kend und unbeſtimmt ſind, und ſie deſto freiern
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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/22>, abgerufen am 23.11.2024.
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