Ceres aber, da sie den Raub ihrer Tochter vernimmt, unwissend wer sie entführte, zündet auf dem flammenden Aetna ihre Fackel an, setzt sich auf ihren mit Drachen bespannten Wagen, und sucht ihre Tochter in den verborgensten Win- keln der Erde, wohin kein Strahl der Sonne drang. -- Sie sucht die Nacht zu erleuchten; das Verborgene aufzudecken; um das Verlohrne und Entschwundene, was ihr so nah ver- wandt ist, wieder ans Licht zu bringen. --
Nachdem sie ihre Tochter nun vergebens auf der ganzen Erde gesucht hatte, so kam sie endlich in Eleusis, einem Flecken in Attika, ermü- det an. --
Mit der Macht der Gottheit verknüpft die schöne Dichtung menschliches Leiden. -- Die erhabene Göttin war jammervoll -- sie setzte sich betrübt auf einem Steine nieder -- bis der gast- freie Celeus sie in seine Wohnung einlud, ohnge- achtet sein Haus voll Trauer war, weil sein ge- liebter Sohn in letzten Zügen lag.
Die Göttin nahm an dieser Trauer Theil, weil sie den Schmerz über den Verlust eines Kin- des in seiner ganzen Größe selber kannte. -- Nun aber that sie, was als Göttin ihr ein Leichtes war; sie machte des Celeus Sohn gesund.
Auch wollte sie die Unsterblichkeit dem blü- henden Knaben schenken, indem sie ihn alle Nacht
Ceres aber, da ſie den Raub ihrer Tochter vernimmt, unwiſſend wer ſie entfuͤhrte, zuͤndet auf dem flammenden Aetna ihre Fackel an, ſetzt ſich auf ihren mit Drachen beſpannten Wagen, und ſucht ihre Tochter in den verborgenſten Win- keln der Erde, wohin kein Strahl der Sonne drang. — Sie ſucht die Nacht zu erleuchten; das Verborgene aufzudecken; um das Verlohrne und Entſchwundene, was ihr ſo nah ver- wandt iſt, wieder ans Licht zu bringen. —
Nachdem ſie ihre Tochter nun vergebens auf der ganzen Erde geſucht hatte, ſo kam ſie endlich in Eleuſis, einem Flecken in Attika, ermuͤ- det an. —
Mit der Macht der Gottheit verknuͤpft die ſchoͤne Dichtung menſchliches Leiden. — Die erhabene Goͤttin war jammervoll — ſie ſetzte ſich betruͤbt auf einem Steine nieder — bis der gaſt- freie Celeus ſie in ſeine Wohnung einlud, ohnge- achtet ſein Haus voll Trauer war, weil ſein ge- liebter Sohn in letzten Zuͤgen lag.
Die Goͤttin nahm an dieſer Trauer Theil, weil ſie den Schmerz uͤber den Verluſt eines Kin- des in ſeiner ganzen Groͤße ſelber kannte. — Nun aber that ſie, was als Goͤttin ihr ein Leichtes war; ſie machte des Celeus Sohn geſund.
Auch wollte ſie die Unſterblichkeit dem bluͤ- henden Knaben ſchenken, indem ſie ihn alle Nacht
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Ceres aber, da ſie den Raub ihrer Tochter
vernimmt, unwiſſend wer ſie entfuͤhrte, zuͤndet
auf dem flammenden Aetna ihre Fackel an, ſetzt
ſich auf ihren mit Drachen beſpannten Wagen,
und ſucht ihre Tochter in den verborgenſten Win-
keln der Erde, wohin kein Strahl der Sonne
drang. — Sie ſucht die Nacht zu erleuchten; das
Verborgene aufzudecken; um das Verlohrne
und Entſchwundene, was ihr ſo nah ver-
wandt iſt, wieder ans Licht zu bringen. —
Nachdem ſie ihre Tochter nun vergebens auf
der ganzen Erde geſucht hatte, ſo kam ſie endlich
in Eleuſis, einem Flecken in Attika, ermuͤ-
det an. —
Mit der Macht der Gottheit verknuͤpft die
ſchoͤne Dichtung menſchliches Leiden. — Die
erhabene Goͤttin war jammervoll — ſie ſetzte ſich
betruͤbt auf einem Steine nieder — bis der gaſt-
freie Celeus ſie in ſeine Wohnung einlud, ohnge-
achtet ſein Haus voll Trauer war, weil ſein ge-
liebter Sohn in letzten Zuͤgen lag.
Die Goͤttin nahm an dieſer Trauer Theil,
weil ſie den Schmerz uͤber den Verluſt eines Kin-
des in ſeiner ganzen Groͤße ſelber kannte. — Nun
aber that ſie, was als Goͤttin ihr ein Leichtes
war; ſie machte des Celeus Sohn geſund.
Auch wollte ſie die Unſterblichkeit dem bluͤ-
henden Knaben ſchenken, indem ſie ihn alle Nacht
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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/181>, abgerufen am 26.11.2024.
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