Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792.
"Sehn Sie, lieber E., sagte sie zu ihm, wie die Natur so schön um sie her ist. Blicken Sie nur um sich; sehn Sie nur das junge Grün, und es wird Jhnen wohl seyn." -- "Mir wohl seyn! erwiederte er, und sah ihr wild ins Auge -- mir wohl seyn! wiederholte er beklommen, ich sehe nicht das Grün, das Sie sehn; sehe nur das abgefallne Laub des vorigen Jahres, und mir ist weh." Eine Thräne zitterte in seinem Auge, er war innigst erschüttert, und bat die Gesellschaft verlassen und nach Hause gehn zu dürfen. Sein Gemüthszustand wurde, da er kein einziges Mittel zu seiner Besserung anwandte, von Tage zu Tage schlimmer. Seine Freunde hatten nichts an ihn zu schreiben, und er sehnte sich nach ihren Briefen; fand in ihrem Stillschweigen Beweise ihrer Treulosigkeit, fluchte ihnen und verfluchte sein Daseyn. Die Tage brachte er fast ohne alle Nahrung, die Nächte schlaflos zu. Zucker war seine einzige Speise, Kaffe sein einziges Getränk. Von dem ersten aß er oft mehr als ein Pfund, und den letzten trank er an vier- bis fünfmal täglich. Einst wendete er auch sein ganzes Monathgeld zum Einkauf des Zuckers an, aß einen
»Sehn Sie, lieber E., sagte sie zu ihm, wie die Natur so schoͤn um sie her ist. Blicken Sie nur um sich; sehn Sie nur das junge Gruͤn, und es wird Jhnen wohl seyn.« — »Mir wohl seyn! erwiederte er, und sah ihr wild ins Auge — mir wohl seyn! wiederholte er beklommen, ich sehe nicht das Gruͤn, das Sie sehn; sehe nur das abgefallne Laub des vorigen Jahres, und mir ist weh.« Eine Thraͤne zitterte in seinem Auge, er war innigst erschuͤttert, und bat die Gesellschaft verlassen und nach Hause gehn zu duͤrfen. Sein Gemuͤthszustand wurde, da er kein einziges Mittel zu seiner Besserung anwandte, von Tage zu Tage schlimmer. Seine Freunde hatten nichts an ihn zu schreiben, und er sehnte sich nach ihren Briefen; fand in ihrem Stillschweigen Beweise ihrer Treulosigkeit, fluchte ihnen und verfluchte sein Daseyn. Die Tage brachte er fast ohne alle Nahrung, die Naͤchte schlaflos zu. Zucker war seine einzige Speise, Kaffe sein einziges Getraͤnk. Von dem ersten aß er oft mehr als ein Pfund, und den letzten trank er an vier- bis fuͤnfmal taͤglich. Einst wendete er auch sein ganzes Monathgeld zum Einkauf des Zuckers an, aß einen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0075" n="75"/><lb/> reichen Tochter des verewigten M. M., gluͤckte es, eine etwas laͤngere Antwort von ihm zu erhalten, die uns aber alle hinriß, und den ganzen traurigen Zustand seines Gemuͤths entfaltete. </p> <p>»Sehn Sie, lieber E., sagte sie zu ihm, wie die Natur so schoͤn um sie her ist. Blicken Sie nur um sich; sehn Sie nur das junge Gruͤn, und es wird Jhnen wohl seyn.« — »Mir wohl seyn! erwiederte er, und sah ihr wild ins Auge — mir wohl seyn! wiederholte er beklommen, <hi rendition="#b">ich</hi> sehe nicht das Gruͤn, das <hi rendition="#b">Sie </hi> sehn; sehe nur das abgefallne Laub des vorigen Jahres, und mir ist weh.« Eine Thraͤne zitterte in seinem Auge, er war innigst erschuͤttert, und bat die Gesellschaft verlassen und nach Hause gehn zu duͤrfen. </p> <p>Sein Gemuͤthszustand wurde, da er kein einziges Mittel zu seiner Besserung anwandte, von Tage zu Tage schlimmer. Seine Freunde hatten nichts an ihn zu schreiben, und er sehnte sich nach ihren Briefen; fand in ihrem Stillschweigen Beweise ihrer Treulosigkeit, fluchte ihnen und verfluchte sein Daseyn. Die Tage brachte er fast ohne alle Nahrung, die Naͤchte schlaflos zu. Zucker war seine einzige Speise, Kaffe sein einziges Getraͤnk. Von dem ersten aß er oft mehr als ein Pfund, und den letzten trank er an vier- bis fuͤnfmal taͤglich. Einst wendete er auch sein ganzes Monathgeld zum Einkauf des Zuckers an, aß einen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [75/0075]
reichen Tochter des verewigten M. M., gluͤckte es, eine etwas laͤngere Antwort von ihm zu erhalten, die uns aber alle hinriß, und den ganzen traurigen Zustand seines Gemuͤths entfaltete.
»Sehn Sie, lieber E., sagte sie zu ihm, wie die Natur so schoͤn um sie her ist. Blicken Sie nur um sich; sehn Sie nur das junge Gruͤn, und es wird Jhnen wohl seyn.« — »Mir wohl seyn! erwiederte er, und sah ihr wild ins Auge — mir wohl seyn! wiederholte er beklommen, ich sehe nicht das Gruͤn, das Sie sehn; sehe nur das abgefallne Laub des vorigen Jahres, und mir ist weh.« Eine Thraͤne zitterte in seinem Auge, er war innigst erschuͤttert, und bat die Gesellschaft verlassen und nach Hause gehn zu duͤrfen.
Sein Gemuͤthszustand wurde, da er kein einziges Mittel zu seiner Besserung anwandte, von Tage zu Tage schlimmer. Seine Freunde hatten nichts an ihn zu schreiben, und er sehnte sich nach ihren Briefen; fand in ihrem Stillschweigen Beweise ihrer Treulosigkeit, fluchte ihnen und verfluchte sein Daseyn. Die Tage brachte er fast ohne alle Nahrung, die Naͤchte schlaflos zu. Zucker war seine einzige Speise, Kaffe sein einziges Getraͤnk. Von dem ersten aß er oft mehr als ein Pfund, und den letzten trank er an vier- bis fuͤnfmal taͤglich. Einst wendete er auch sein ganzes Monathgeld zum Einkauf des Zuckers an, aß einen
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/75>, abgerufen am 16.02.2025. |