Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite


ger Studierender, der seine Manuscripte in der größten Ordnung der Buchstaben abschrieb: jetzt ist er Aktenschreiber. --

Lavater beantwortet einen Einwurf: "Aber die schönsten regelmäßigsten Schreiber sind oft die unregelmäßigsten Menschen -- wie die besten Prediger -- und dennoch würden die besten Prediger noch unendliche bessere Prediger seyn, wenn sie die besten Menschen wären. So die Schönschreiber. Sie würden noch edler, noch schöner schreiben, wenn sie zu ihren Talenten noch gerade so viel Herz hätten." Jch würde diesen Einwurf nicht beantwortet, sondern ihn ganz widerlegt haben. Nicht allein Erfahrung, sondern auch physische Kenntniß des Körpers können Beweise hergeben, daß ein solcher Schönschreiber, wie ich ihn oben beschrieben habe, und wie ihn das Leben nennt, nicht ein unregelmäßiger, ausschweifender, sanguinischer Mensch seyn kann.

Je mehr Genie -- desto weniger Schönschreiber: nicht aber daher der Schluß, je weniger Schönschreiber -- desto mehr Genie. Wie viel Genies würden sonst bald nicht in der Welt seyn, wenigstens genieartig schreiben! Es giebt noch tausend Modifikationen und wesentliche Unterschiede, unter schlechten Handschriften. Der Nervenschwache, der Gichtische schreibt eben so schlecht, als das Genie, ohne deswegen Genie zu seyn.


ger Studierender, der seine Manuscripte in der groͤßten Ordnung der Buchstaben abschrieb: jetzt ist er Aktenschreiber. —

Lavater beantwortet einen Einwurf: »Aber die schoͤnsten regelmaͤßigsten Schreiber sind oft die unregelmaͤßigsten Menschen — wie die besten Prediger — und dennoch wuͤrden die besten Prediger noch unendliche bessere Prediger seyn, wenn sie die besten Menschen waͤren. So die Schoͤnschreiber. Sie wuͤrden noch edler, noch schoͤner schreiben, wenn sie zu ihren Talenten noch gerade so viel Herz haͤtten.« Jch wuͤrde diesen Einwurf nicht beantwortet, sondern ihn ganz widerlegt haben. Nicht allein Erfahrung, sondern auch physische Kenntniß des Koͤrpers koͤnnen Beweise hergeben, daß ein solcher Schoͤnschreiber, wie ich ihn oben beschrieben habe, und wie ihn das Leben nennt, nicht ein unregelmaͤßiger, ausschweifender, sanguinischer Mensch seyn kann.

Je mehr Genie — desto weniger Schoͤnschreiber: nicht aber daher der Schluß, je weniger Schoͤnschreiber — desto mehr Genie. Wie viel Genies wuͤrden sonst bald nicht in der Welt seyn, wenigstens genieartig schreiben! Es giebt noch tausend Modifikationen und wesentliche Unterschiede, unter schlechten Handschriften. Der Nervenschwache, der Gichtische schreibt eben so schlecht, als das Genie, ohne deswegen Genie zu seyn.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0061" n="61"/><lb/>
ger                         Studierender, der seine Manuscripte in der gro&#x0364;ßten Ordnung der Buchstaben                         abschrieb: jetzt ist er Aktenschreiber. &#x2014; </p>
            <p><persName ref="#ref0027"><note type="editorial">Lavater, Johann Caspar</note>Lavater</persName> beantwortet einen Einwurf: »Aber die                         scho&#x0364;nsten regelma&#x0364;ßigsten Schreiber sind oft die unregelma&#x0364;ßigsten Menschen &#x2014;                         wie die besten Prediger &#x2014; und dennoch wu&#x0364;rden die besten Prediger noch                         unendliche bessere Prediger seyn, wenn sie die besten Menschen wa&#x0364;ren. So die                         Scho&#x0364;nschreiber. Sie wu&#x0364;rden noch edler, noch scho&#x0364;ner schreiben, wenn sie zu                         ihren Talenten noch gerade so viel Herz ha&#x0364;tten.« Jch wu&#x0364;rde diesen Einwurf                         nicht beantwortet, sondern ihn ganz widerlegt haben. Nicht allein Erfahrung,                         sondern auch physische Kenntniß des Ko&#x0364;rpers ko&#x0364;nnen Beweise hergeben, daß ein                         solcher Scho&#x0364;nschreiber, wie ich ihn oben beschrieben habe, und wie ihn das                         Leben nennt, nicht ein unregelma&#x0364;ßiger, ausschweifender, sanguinischer Mensch                         seyn kann. </p>
            <p>Je mehr Genie &#x2014; desto weniger Scho&#x0364;nschreiber: nicht aber daher der Schluß, je                         weniger Scho&#x0364;nschreiber &#x2014; desto mehr Genie. Wie viel Genies wu&#x0364;rden sonst bald                         nicht in der Welt seyn, wenigstens genieartig schreiben! Es giebt noch                         tausend Modifikationen und wesentliche Unterschiede, unter schlechten                         Handschriften. Der Nervenschwache, der Gichtische schreibt eben so schlecht,                         als das Genie, ohne deswegen Genie zu seyn.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0061] ger Studierender, der seine Manuscripte in der groͤßten Ordnung der Buchstaben abschrieb: jetzt ist er Aktenschreiber. — Lavater beantwortet einen Einwurf: »Aber die schoͤnsten regelmaͤßigsten Schreiber sind oft die unregelmaͤßigsten Menschen — wie die besten Prediger — und dennoch wuͤrden die besten Prediger noch unendliche bessere Prediger seyn, wenn sie die besten Menschen waͤren. So die Schoͤnschreiber. Sie wuͤrden noch edler, noch schoͤner schreiben, wenn sie zu ihren Talenten noch gerade so viel Herz haͤtten.« Jch wuͤrde diesen Einwurf nicht beantwortet, sondern ihn ganz widerlegt haben. Nicht allein Erfahrung, sondern auch physische Kenntniß des Koͤrpers koͤnnen Beweise hergeben, daß ein solcher Schoͤnschreiber, wie ich ihn oben beschrieben habe, und wie ihn das Leben nennt, nicht ein unregelmaͤßiger, ausschweifender, sanguinischer Mensch seyn kann. Je mehr Genie — desto weniger Schoͤnschreiber: nicht aber daher der Schluß, je weniger Schoͤnschreiber — desto mehr Genie. Wie viel Genies wuͤrden sonst bald nicht in der Welt seyn, wenigstens genieartig schreiben! Es giebt noch tausend Modifikationen und wesentliche Unterschiede, unter schlechten Handschriften. Der Nervenschwache, der Gichtische schreibt eben so schlecht, als das Genie, ohne deswegen Genie zu seyn.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/61
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/61>, abgerufen am 23.11.2024.