Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 2. Berlin, 1792.
Die Uebereinstimmung dieser Freunde in ihrer Neigung und Lebensart, mit einiger Verschiedenheit in Ansehung ihrer Talente, machte ihre Unterhaltung desto angenehmer. B. J. hatte mehr Talente zu Wissenschaften, bewarb sich mehr um Gründlichkeit und Richtigkeit seiner Kenntnisse als L. Dieser hingegen hatte den Vorzug einer lebhaften Einbildungskraft, und folglich mehr Talente zur Beredsamkeit und Dichtkunst als jener. Wenn B. J. einen neuen Gedanken vorgebracht hatte, so wußte L. denselben durch eine Menge Beispiele zu erläutern und gleichsam zu versinnlichen. Jhre Neigung zueinander gieng so weit, daß sie, wenn es nur angieng, Tag und Nacht miteinander zubrachten; ja zuletzt fiengen sie sogar an, die gewöhnlichen Betstunden darüber zu vernachlässigen. Erst übernahm es L. zu beweisen, daß selbst die Talmudisten nicht immer ihre Gebete in der Synagoge, sondern zuweilen in ihrer Studierstube verrichteten. Hernach bewies er auch, daß nicht alle für nothwendig gehaltenen Gebete gleich nothwendig wären, sondern daß man einiger derselben ganz entbeh-
Die Uebereinstimmung dieser Freunde in ihrer Neigung und Lebensart, mit einiger Verschiedenheit in Ansehung ihrer Talente, machte ihre Unterhaltung desto angenehmer. B. J. hatte mehr Talente zu Wissenschaften, bewarb sich mehr um Gruͤndlichkeit und Richtigkeit seiner Kenntnisse als L. Dieser hingegen hatte den Vorzug einer lebhaften Einbildungskraft, und folglich mehr Talente zur Beredsamkeit und Dichtkunst als jener. Wenn B. J. einen neuen Gedanken vorgebracht hatte, so wußte L. denselben durch eine Menge Beispiele zu erlaͤutern und gleichsam zu versinnlichen. Jhre Neigung zueinander gieng so weit, daß sie, wenn es nur angieng, Tag und Nacht miteinander zubrachten; ja zuletzt fiengen sie sogar an, die gewoͤhnlichen Betstunden daruͤber zu vernachlaͤssigen. Erst uͤbernahm es L. zu beweisen, daß selbst die Talmudisten nicht immer ihre Gebete in der Synagoge, sondern zuweilen in ihrer Studierstube verrichteten. Hernach bewies er auch, daß nicht alle fuͤr nothwendig gehaltenen Gebete gleich nothwendig waͤren, sondern daß man einiger derselben ganz entbeh- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0051" n="51"/><lb/> pflegte diesen abgefallenen Aermel mit einer Stecknadel auf den Ruͤcken zu heften, und darauf seinen Freund zu fragen: <hi rendition="#b">sehe ich nicht aus wie ein Schlachzig</hi> (polnischer Edelmann)? <hi rendition="#b">B. J.</hi> konnte seine zerrissenen Schuhe, die vorne ganz aufgegangen waren, nicht genug ruͤhmen, indem er sagte: <hi rendition="#b">sie druͤcken gar nicht.</hi></p> <p>Die Uebereinstimmung dieser Freunde in ihrer Neigung und Lebensart, mit einiger Verschiedenheit in Ansehung ihrer Talente, machte ihre Unterhaltung desto angenehmer. <hi rendition="#b">B. J.</hi> hatte mehr Talente zu Wissenschaften, bewarb sich mehr um <hi rendition="#b">Gruͤndlichkeit und Richtigkeit seiner Kenntnisse</hi> als L. Dieser hingegen hatte den Vorzug einer lebhaften Einbildungskraft, und folglich mehr Talente zur <hi rendition="#b">Beredsamkeit und Dichtkunst</hi> als jener. Wenn <hi rendition="#b">B. J.</hi> einen neuen Gedanken vorgebracht hatte, so wußte L. denselben durch eine Menge Beispiele zu erlaͤutern und gleichsam zu versinnlichen.</p> <p>Jhre Neigung zueinander gieng so weit, daß sie, wenn es nur angieng, Tag und Nacht miteinander zubrachten; ja zuletzt fiengen sie sogar an, die gewoͤhnlichen Betstunden daruͤber zu vernachlaͤssigen. Erst uͤbernahm es L. zu beweisen, daß selbst die Talmudisten nicht immer ihre Gebete in der Synagoge, sondern zuweilen in ihrer Studierstube verrichteten. Hernach bewies er auch, daß nicht alle fuͤr nothwendig gehaltenen Gebete gleich nothwendig waͤren, sondern daß man einiger derselben ganz entbeh-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [51/0051]
pflegte diesen abgefallenen Aermel mit einer Stecknadel auf den Ruͤcken zu heften, und darauf seinen Freund zu fragen: sehe ich nicht aus wie ein Schlachzig (polnischer Edelmann)? B. J. konnte seine zerrissenen Schuhe, die vorne ganz aufgegangen waren, nicht genug ruͤhmen, indem er sagte: sie druͤcken gar nicht.
Die Uebereinstimmung dieser Freunde in ihrer Neigung und Lebensart, mit einiger Verschiedenheit in Ansehung ihrer Talente, machte ihre Unterhaltung desto angenehmer. B. J. hatte mehr Talente zu Wissenschaften, bewarb sich mehr um Gruͤndlichkeit und Richtigkeit seiner Kenntnisse als L. Dieser hingegen hatte den Vorzug einer lebhaften Einbildungskraft, und folglich mehr Talente zur Beredsamkeit und Dichtkunst als jener. Wenn B. J. einen neuen Gedanken vorgebracht hatte, so wußte L. denselben durch eine Menge Beispiele zu erlaͤutern und gleichsam zu versinnlichen.
Jhre Neigung zueinander gieng so weit, daß sie, wenn es nur angieng, Tag und Nacht miteinander zubrachten; ja zuletzt fiengen sie sogar an, die gewoͤhnlichen Betstunden daruͤber zu vernachlaͤssigen. Erst uͤbernahm es L. zu beweisen, daß selbst die Talmudisten nicht immer ihre Gebete in der Synagoge, sondern zuweilen in ihrer Studierstube verrichteten. Hernach bewies er auch, daß nicht alle fuͤr nothwendig gehaltenen Gebete gleich nothwendig waͤren, sondern daß man einiger derselben ganz entbeh-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 2. Berlin, 1792, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0902_1792/51>, abgerufen am 17.02.2025. |