Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792.Er fing an zu lesen. Und wie groß war nicht seine Freude und Verwunderung, da er aus dem Zusammenhange sahe, daß die Worte mit denjenigen, die er schon gelernt hatte, völlig übereinstimmten. Zwar blieben ihm nach seiner jüdischen Sprache eine Menge Worte unverständlich, aber aus dem Zusammenhange konnte er doch auch mit Weglassung dieser Worte das Ganze ziemlich fassen. B. J. fühlte noch immer eine Leere in sich, die er nicht auszufüllen im Stande war. Er konnte seine Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften nicht befriedigen. Bis jetzt war noch immer das Studium des Talmuds sein Hauptgeschäfte, woran er aber blos in Ansehung der Form, indem sie die höhern Seelenkräfte in Thätigkeit setzt, einen Gefallen hatte; keineswegs aber in Ansehung der Materie. Man findet darin Gelegenheit zur Uebung in Herleitung der entferntesten Folgen aus ihren Gründen, zur Entdeckung der verborgensten Widersprüche, zur Ausfindigmachung der feinsten Distinktionen u.s.w. Da aber die Prinzipien selbst blos eine eingebildete Realität haben, so kann sich eine wißbegierige Seele keinesweges damit befriedigen. Er sahe sich also nach etwas um, wodurch er diesen Mangel ersetzen könnte. Nun wußte er zwar, daß es eine sogenannte Wissenschaft giebt, die bei den jüdischen Gelehrten in dieser Gegend ziemlich im Schwange ist; nehmlich die Kabala, Er fing an zu lesen. Und wie groß war nicht seine Freude und Verwunderung, da er aus dem Zusammenhange sahe, daß die Worte mit denjenigen, die er schon gelernt hatte, voͤllig uͤbereinstimmten. Zwar blieben ihm nach seiner juͤdischen Sprache eine Menge Worte unverstaͤndlich, aber aus dem Zusammenhange konnte er doch auch mit Weglassung dieser Worte das Ganze ziemlich fassen. B. J. fuͤhlte noch immer eine Leere in sich, die er nicht auszufuͤllen im Stande war. Er konnte seine Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften nicht befriedigen. Bis jetzt war noch immer das Studium des Talmuds sein Hauptgeschaͤfte, woran er aber blos in Ansehung der Form, indem sie die hoͤhern Seelenkraͤfte in Thaͤtigkeit setzt, einen Gefallen hatte; keineswegs aber in Ansehung der Materie. Man findet darin Gelegenheit zur Uebung in Herleitung der entferntesten Folgen aus ihren Gruͤnden, zur Entdeckung der verborgensten Widerspruͤche, zur Ausfindigmachung der feinsten Distinktionen u.s.w. Da aber die Prinzipien selbst blos eine eingebildete Realitaͤt haben, so kann sich eine wißbegierige Seele keinesweges damit befriedigen. Er sahe sich also nach etwas um, wodurch er diesen Mangel ersetzen koͤnnte. Nun wußte er zwar, daß es eine sogenannte Wissenschaft giebt, die bei den juͤdischen Gelehrten in dieser Gegend ziemlich im Schwange ist; nehmlich die Kabala, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0036" n="34"/><lb/> <p>Er fing an zu lesen. Und wie groß war nicht seine Freude und Verwunderung, da er aus dem Zusammenhange sahe, daß die Worte mit denjenigen, die er schon gelernt hatte, voͤllig uͤbereinstimmten. Zwar blieben ihm nach seiner juͤdischen Sprache eine Menge Worte unverstaͤndlich, aber aus dem Zusammenhange konnte er doch auch mit Weglassung dieser Worte das Ganze ziemlich fassen.</p> <p><hi rendition="#b"><persName ref="#ref0003"><note type="editorial">Maimon, Salomon</note>B. J.</persName></hi> fuͤhlte noch immer eine Leere in sich, die er nicht auszufuͤllen im Stande war. Er konnte seine Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften nicht befriedigen. Bis jetzt war noch immer das Studium des Talmuds sein Hauptgeschaͤfte, woran er aber blos in Ansehung der Form, indem sie die hoͤhern Seelenkraͤfte in Thaͤtigkeit setzt, einen Gefallen hatte; keineswegs aber in Ansehung der Materie.</p> <p>Man findet darin Gelegenheit zur Uebung in Herleitung der entferntesten Folgen aus ihren Gruͤnden, zur Entdeckung der verborgensten Widerspruͤche, zur Ausfindigmachung der feinsten Distinktionen u.s.w. Da aber die Prinzipien selbst blos eine eingebildete Realitaͤt haben, so kann sich eine wißbegierige Seele keinesweges damit befriedigen. </p> <p>Er sahe sich also nach etwas um, wodurch er diesen Mangel ersetzen koͤnnte. Nun wußte er zwar, daß es eine sogenannte Wissenschaft giebt, die bei den juͤdischen Gelehrten in dieser Gegend ziemlich im Schwange ist; nehmlich die <choice><corr>Kabala,</corr><sic>Kabale,</sic></choice><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0036]
Er fing an zu lesen. Und wie groß war nicht seine Freude und Verwunderung, da er aus dem Zusammenhange sahe, daß die Worte mit denjenigen, die er schon gelernt hatte, voͤllig uͤbereinstimmten. Zwar blieben ihm nach seiner juͤdischen Sprache eine Menge Worte unverstaͤndlich, aber aus dem Zusammenhange konnte er doch auch mit Weglassung dieser Worte das Ganze ziemlich fassen.
B. J. fuͤhlte noch immer eine Leere in sich, die er nicht auszufuͤllen im Stande war. Er konnte seine Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften nicht befriedigen. Bis jetzt war noch immer das Studium des Talmuds sein Hauptgeschaͤfte, woran er aber blos in Ansehung der Form, indem sie die hoͤhern Seelenkraͤfte in Thaͤtigkeit setzt, einen Gefallen hatte; keineswegs aber in Ansehung der Materie.
Man findet darin Gelegenheit zur Uebung in Herleitung der entferntesten Folgen aus ihren Gruͤnden, zur Entdeckung der verborgensten Widerspruͤche, zur Ausfindigmachung der feinsten Distinktionen u.s.w. Da aber die Prinzipien selbst blos eine eingebildete Realitaͤt haben, so kann sich eine wißbegierige Seele keinesweges damit befriedigen.
Er sahe sich also nach etwas um, wodurch er diesen Mangel ersetzen koͤnnte. Nun wußte er zwar, daß es eine sogenannte Wissenschaft giebt, die bei den juͤdischen Gelehrten in dieser Gegend ziemlich im Schwange ist; nehmlich die Kabala,
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