Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 1. Berlin, 1792.Werther traf einst einen Menschen an, der, nachdem er aus dem Tollhause, worin er wegen seiner Raserei einige Zeit eingesperrt gewesen war, befreiet worden, blos noch in eine niemanden schädliche tiefe Melancholie versenkt war. Dieser erzählt ihm: "es war einmal eine Zeit, da mir's so wohl war, jetzt ist es aus mit mir. Jch bin nun u.s.w." -- und auf Befragen, ob er würklich einst glücklich gewesen sey? antwortet er: "ach ich wollte ich wäre wieder so, da war mir's so wohl, wie einem Fische im Wasser (wodurch er den Zustand seiner Tollheit versteht)."*) Und sollte dieses auch keine wahre Anekdote, sondern eine bloße Erdichtung vom Verfasser seyn, so ist diese Bemerkung doch nicht minder wahr, und kann durch tausend Beispiele bestätigt werden. 2) Pathologie. Gesetzt wir hätten eine Erklärung der Seelengesundheit, und folglich auch der Seelenkrankheit (der Abweichung vom vorigen Zustande) ausfindig gemacht, so ist es doch unmöglich, die Seelenkrankheitslehre so vollständig systematisch zu behandeln, als die Körperkrankheitslehre. Denn nehmen wir die Krankheit des Körpers in ihrem höchsten Grade, in ihrem völligen Ausbruche, so kann die letztere Art (weil die Krankheiten des Körpers sich unsrer Beobachtung häufiger und *) Siehe die Leiden des jungen Werthers, den 2ten Theil.
Werther traf einst einen Menschen an, der, nachdem er aus dem Tollhause, worin er wegen seiner Raserei einige Zeit eingesperrt gewesen war, befreiet worden, blos noch in eine niemanden schaͤdliche tiefe Melancholie versenkt war. Dieser erzaͤhlt ihm: »es war einmal eine Zeit, da mir's so wohl war, jetzt ist es aus mit mir. Jch bin nun u.s.w.« — und auf Befragen, ob er wuͤrklich einst gluͤcklich gewesen sey? antwortet er: »ach ich wollte ich waͤre wieder so, da war mir's so wohl, wie einem Fische im Wasser (wodurch er den Zustand seiner Tollheit versteht).«*) Und sollte dieses auch keine wahre Anekdote, sondern eine bloße Erdichtung vom Verfasser seyn, so ist diese Bemerkung doch nicht minder wahr, und kann durch tausend Beispiele bestaͤtigt werden. 2) Pathologie. Gesetzt wir haͤtten eine Erklaͤrung der Seelengesundheit, und folglich auch der Seelenkrankheit (der Abweichung vom vorigen Zustande) ausfindig gemacht, so ist es doch unmoͤglich, die Seelenkrankheitslehre so vollstaͤndig systematisch zu behandeln, als die Koͤrperkrankheitslehre. Denn nehmen wir die Krankheit des Koͤrpers in ihrem hoͤchsten Grade, in ihrem voͤlligen Ausbruche, so kann die letztere Art (weil die Krankheiten des Koͤrpers sich unsrer Beobachtung haͤufiger und *) Siehe die Leiden des jungen Werthers, den 2ten Theil.
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Werther traf einst einen Menschen an, der, nachdem er aus dem Tollhause, worin er wegen seiner Raserei einige Zeit eingesperrt gewesen war, befreiet worden, blos noch in eine niemanden schaͤdliche tiefe Melancholie versenkt war. Dieser erzaͤhlt ihm: »es war einmal eine Zeit, da mir's so wohl war, jetzt ist es aus mit mir. Jch bin nun u.s.w.« — und auf Befragen, ob er wuͤrklich einst gluͤcklich gewesen sey? antwortet er: »ach ich wollte ich waͤre wieder so, da war mir's so wohl, wie einem Fische im Wasser (wodurch er den Zustand seiner Tollheit versteht).«*) Und sollte dieses auch keine wahre Anekdote, sondern eine bloße Erdichtung vom Verfasser seyn, so ist diese Bemerkung doch nicht minder wahr, und kann durch tausend Beispiele bestaͤtigt werden.
2) Pathologie. Gesetzt wir haͤtten eine Erklaͤrung der Seelengesundheit, und folglich auch der Seelenkrankheit (der Abweichung vom vorigen Zustande) ausfindig gemacht, so ist es doch unmoͤglich, die Seelenkrankheitslehre so vollstaͤndig systematisch zu behandeln, als die Koͤrperkrankheitslehre.
Denn nehmen wir die Krankheit des Koͤrpers in ihrem hoͤchsten Grade, in ihrem voͤlligen Ausbruche, so kann die letztere Art (weil die Krankheiten des Koͤrpers sich unsrer Beobachtung haͤufiger und
*) Siehe die Leiden des jungen Werthers, den 2ten Theil.
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