Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.Jch stand wie versteinert. "Madame, sagte ich," indem ich die Frau vom Hause bei Seite nahm, "um Gotteswillen! wer ist das Fratzengesicht das Sie hier bei sich haben?" wie? sie kennen ihn nicht? das ist ja der Herr v. S. Jch war wie aus den Wolken gefallen. Er überhäufte mich mit Höflichkeiten; aber er blieb mir immer so verhaßt, wie zuvor. Bald darauf entwickelte sich sein Charakter immer mehr, bis er endlich während der Revolution die bekannte Rolle spielte. Man begnadigte ihn, begnügte sich, ihn für infam zu erklären, zu verbannen u.s.w. Herr v. S. ist ziemlich hübsch, ein fader Blondin, sehr fein, und drückt sich gut aus. Die Frage ist nun: was hat mich so sehr im ersten Blicke gegen diesen Mann eingenommen? Jch kann es nicht begreifen; indessen hat der Erfolg mein physiognomisches Vorgefühl völlig bestätiget. Jetzt ist es bekannt, daß er ein äußerst niedriger Bösewicht ist. Man sagt, er habe schon im zehnten Jahre seiner Mutter den Dolch auf die Brust gesetzt, um Geld von ihr zu erpressen u.s.w. Band I. Theil II. S. 1. f. Jch liebe diesen Herrn Nenke. Er scheint einen tiefdenkenden Geist zu haben; jedoch ist er ein wenig zu schnell, und es fehlt ihm an Präcision. Gleich in der zweiten Phrasis hätten ihn die Herausgeber, meiner Meinung nach, berichtigen sollen. Er sagt; daß Jch stand wie versteinert. »Madame, sagte ich,« indem ich die Frau vom Hause bei Seite nahm, »um Gotteswillen! wer ist das Fratzengesicht das Sie hier bei sich haben?« wie? sie kennen ihn nicht? das ist ja der Herr v. S. Jch war wie aus den Wolken gefallen. Er uͤberhaͤufte mich mit Hoͤflichkeiten; aber er blieb mir immer so verhaßt, wie zuvor. Bald darauf entwickelte sich sein Charakter immer mehr, bis er endlich waͤhrend der Revolution die bekannte Rolle spielte. Man begnadigte ihn, begnuͤgte sich, ihn fuͤr infam zu erklaͤren, zu verbannen u.s.w. Herr v. S. ist ziemlich huͤbsch, ein fader Blondin, sehr fein, und druͤckt sich gut aus. Die Frage ist nun: was hat mich so sehr im ersten Blicke gegen diesen Mann eingenommen? Jch kann es nicht begreifen; indessen hat der Erfolg mein physiognomisches Vorgefuͤhl voͤllig bestaͤtiget. Jetzt ist es bekannt, daß er ein aͤußerst niedriger Boͤsewicht ist. Man sagt, er habe schon im zehnten Jahre seiner Mutter den Dolch auf die Brust gesetzt, um Geld von ihr zu erpressen u.s.w. Band I. Theil II. S. 1. f. Jch liebe diesen Herrn Nenke. Er scheint einen tiefdenkenden Geist zu haben; jedoch ist er ein wenig zu schnell, und es fehlt ihm an Praͤcision. Gleich in der zweiten Phrasis haͤtten ihn die Herausgeber, meiner Meinung nach, berichtigen sollen. Er sagt; daß <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0065" n="65"/><lb/> <p>Jch stand wie versteinert. »Madame, sagte ich,« indem ich die Frau vom Hause bei Seite nahm, »um Gotteswillen! wer ist das Fratzengesicht das Sie hier bei sich haben?« wie? sie kennen ihn nicht? das ist ja der Herr v. S. Jch war wie aus den Wolken gefallen. Er uͤberhaͤufte mich mit Hoͤflichkeiten; aber er blieb mir immer so verhaßt, wie zuvor. </p> <p>Bald darauf entwickelte sich sein Charakter immer mehr, bis er endlich waͤhrend der Revolution die bekannte Rolle spielte. </p> <p>Man begnadigte ihn, begnuͤgte sich, ihn fuͤr infam zu erklaͤren, zu verbannen u.s.w. Herr v. S. ist ziemlich huͤbsch, ein fader Blondin, sehr fein, und druͤckt sich gut aus. Die Frage ist nun: was hat mich so sehr im ersten Blicke gegen diesen Mann eingenommen? Jch kann es nicht begreifen; indessen hat der Erfolg mein physiognomisches Vorgefuͤhl voͤllig bestaͤtiget. Jetzt ist es bekannt, daß er ein aͤußerst niedriger Boͤsewicht ist. Man sagt, er habe schon im zehnten Jahre seiner Mutter den Dolch auf die Brust gesetzt, um Geld von ihr zu erpressen u.s.w. </p> <p>Band <hi rendition="#aq">I.</hi> Theil <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 1. f. Jch liebe diesen Herrn <hi rendition="#b">Nenke.</hi> Er scheint einen tiefdenkenden Geist zu haben; jedoch ist er ein wenig zu schnell, und es fehlt ihm an Praͤcision. Gleich in der zweiten Phrasis haͤtten ihn die Herausgeber, meiner Meinung nach, berichtigen sollen. Er sagt; daß<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0065]
Jch stand wie versteinert. »Madame, sagte ich,« indem ich die Frau vom Hause bei Seite nahm, »um Gotteswillen! wer ist das Fratzengesicht das Sie hier bei sich haben?« wie? sie kennen ihn nicht? das ist ja der Herr v. S. Jch war wie aus den Wolken gefallen. Er uͤberhaͤufte mich mit Hoͤflichkeiten; aber er blieb mir immer so verhaßt, wie zuvor.
Bald darauf entwickelte sich sein Charakter immer mehr, bis er endlich waͤhrend der Revolution die bekannte Rolle spielte.
Man begnadigte ihn, begnuͤgte sich, ihn fuͤr infam zu erklaͤren, zu verbannen u.s.w. Herr v. S. ist ziemlich huͤbsch, ein fader Blondin, sehr fein, und druͤckt sich gut aus. Die Frage ist nun: was hat mich so sehr im ersten Blicke gegen diesen Mann eingenommen? Jch kann es nicht begreifen; indessen hat der Erfolg mein physiognomisches Vorgefuͤhl voͤllig bestaͤtiget. Jetzt ist es bekannt, daß er ein aͤußerst niedriger Boͤsewicht ist. Man sagt, er habe schon im zehnten Jahre seiner Mutter den Dolch auf die Brust gesetzt, um Geld von ihr zu erpressen u.s.w.
Band I. Theil II. S. 1. f. Jch liebe diesen Herrn Nenke. Er scheint einen tiefdenkenden Geist zu haben; jedoch ist er ein wenig zu schnell, und es fehlt ihm an Praͤcision. Gleich in der zweiten Phrasis haͤtten ihn die Herausgeber, meiner Meinung nach, berichtigen sollen. Er sagt; daß
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0803_1791/65>, abgerufen am 23.07.2024. |