Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791.
Man täuscht sich gemeiniglich, wenn man glaubt geschwinder Lesen als Sprechen zu können, da doch das (nicht laute) Lesen nichts anders als ein inneres Sprechen ist. Der Grund dieser Täuschung aber liegt darin, daß man schon aus Gewohnheit sich mit ganzen Phrasen bekannt gemacht hatte; man ließt daher bloß einige Theile derselben, und ersetzt das übrige aus dem Gedächtniß, und glaubt demohnerachtet das Ganze gelesen zu haben. Wir mögen also die Vorstellung eines Worts durchs Hören oder durchs Sehen erlangen, so ist ihre Dauer immer nur so viel, als zur Apprehension, d.h. zur Zusammennehmung der einzelnen Buchstaben, und ihrer Ordnung untereinander in einem Worte, nothwendig ist. Sobald dieses zu Ende ist, müssen wir entweder durch unmittelbare Wahrnehmung oder Erinnerung dieses Geschäft aufs Neue vornehmen; aber dieses ist nicht mehr die Dauer eben derselben Vorstellung, sondern blos ihre Wiederholung. Jch komme nun zu meiner Erklärung dieser Erscheinung, zu deren Behufe ich folgende Sätze vorausschicken zu können glaube: 1) Das aus der Psychologie bekannte Gesetz der Association überhaupt; nehmlich wenn zwei Vorstellungen A und B dem Erkenntnißvermögen, in einer unmittelbaren Folge im Raume oder in der
Man taͤuscht sich gemeiniglich, wenn man glaubt geschwinder Lesen als Sprechen zu koͤnnen, da doch das (nicht laute) Lesen nichts anders als ein inneres Sprechen ist. Der Grund dieser Taͤuschung aber liegt darin, daß man schon aus Gewohnheit sich mit ganzen Phrasen bekannt gemacht hatte; man ließt daher bloß einige Theile derselben, und ersetzt das uͤbrige aus dem Gedaͤchtniß, und glaubt demohnerachtet das Ganze gelesen zu haben. Wir moͤgen also die Vorstellung eines Worts durchs Hoͤren oder durchs Sehen erlangen, so ist ihre Dauer immer nur so viel, als zur Apprehension, d.h. zur Zusammennehmung der einzelnen Buchstaben, und ihrer Ordnung untereinander in einem Worte, nothwendig ist. Sobald dieses zu Ende ist, muͤssen wir entweder durch unmittelbare Wahrnehmung oder Erinnerung dieses Geschaͤft aufs Neue vornehmen; aber dieses ist nicht mehr die Dauer eben derselben Vorstellung, sondern blos ihre Wiederholung. Jch komme nun zu meiner Erklaͤrung dieser Erscheinung, zu deren Behufe ich folgende Saͤtze vorausschicken zu koͤnnen glaube: 1) Das aus der Psychologie bekannte Gesetz der Association uͤberhaupt; nehmlich wenn zwei Vorstellungen A und B dem Erkenntnißvermoͤgen, in einer unmittelbaren Folge im Raume oder in der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0011" n="11"/><lb/> verschieden seyn, und hierin sind alle sinnlichen Vorstellungen einander aͤhnlich. </p> <p>Man taͤuscht sich gemeiniglich, wenn man glaubt geschwinder <hi rendition="#b">Lesen</hi> als <hi rendition="#b">Sprechen</hi> zu koͤnnen, da doch das (nicht laute) Lesen nichts anders als ein inneres Sprechen ist. Der Grund dieser Taͤuschung aber liegt darin, daß man schon aus Gewohnheit sich mit ganzen Phrasen bekannt gemacht hatte; man ließt daher bloß einige Theile derselben, und ersetzt das uͤbrige aus dem Gedaͤchtniß, und glaubt demohnerachtet das Ganze gelesen zu haben. </p> <p>Wir moͤgen also die Vorstellung eines Worts durchs Hoͤren oder durchs Sehen erlangen, so ist ihre Dauer immer nur so viel, als zur Apprehension, d.h. zur Zusammennehmung der einzelnen Buchstaben, und ihrer Ordnung untereinander in einem Worte, nothwendig ist. </p> <p>Sobald dieses zu Ende ist, muͤssen wir entweder durch unmittelbare Wahrnehmung oder Erinnerung dieses Geschaͤft aufs Neue vornehmen; aber dieses ist nicht mehr <hi rendition="#b">die Dauer eben derselben Vorstellung,</hi> sondern blos <hi rendition="#b">ihre Wiederholung.</hi> </p> <p>Jch komme nun zu meiner Erklaͤrung dieser Erscheinung, zu deren Behufe ich folgende Saͤtze vorausschicken zu koͤnnen glaube: </p> <list> <item>1) Das aus der Psychologie bekannte Gesetz der Association uͤberhaupt; nehmlich wenn zwei Vorstellungen <hi rendition="#aq">A</hi> und <hi rendition="#aq">B</hi> dem Erkenntnißvermoͤgen, in einer unmittelbaren Folge im Raume oder in der<lb/></item> </list> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [11/0011]
verschieden seyn, und hierin sind alle sinnlichen Vorstellungen einander aͤhnlich.
Man taͤuscht sich gemeiniglich, wenn man glaubt geschwinder Lesen als Sprechen zu koͤnnen, da doch das (nicht laute) Lesen nichts anders als ein inneres Sprechen ist. Der Grund dieser Taͤuschung aber liegt darin, daß man schon aus Gewohnheit sich mit ganzen Phrasen bekannt gemacht hatte; man ließt daher bloß einige Theile derselben, und ersetzt das uͤbrige aus dem Gedaͤchtniß, und glaubt demohnerachtet das Ganze gelesen zu haben.
Wir moͤgen also die Vorstellung eines Worts durchs Hoͤren oder durchs Sehen erlangen, so ist ihre Dauer immer nur so viel, als zur Apprehension, d.h. zur Zusammennehmung der einzelnen Buchstaben, und ihrer Ordnung untereinander in einem Worte, nothwendig ist.
Sobald dieses zu Ende ist, muͤssen wir entweder durch unmittelbare Wahrnehmung oder Erinnerung dieses Geschaͤft aufs Neue vornehmen; aber dieses ist nicht mehr die Dauer eben derselben Vorstellung, sondern blos ihre Wiederholung.
Jch komme nun zu meiner Erklaͤrung dieser Erscheinung, zu deren Behufe ich folgende Saͤtze vorausschicken zu koͤnnen glaube:
1) Das aus der Psychologie bekannte Gesetz der Association uͤberhaupt; nehmlich wenn zwei Vorstellungen A und B dem Erkenntnißvermoͤgen, in einer unmittelbaren Folge im Raume oder in der
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 3. Berlin, 1791, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0803_1791/11>, abgerufen am 16.02.2025. |