Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791.
So wie aber nichts vollkommen ist, so war er auch noch nicht vollkommen von Vorurtheilen frei, in sofern nehmlich eine jede Vorliebe für etwas auch eine gewisse Art von Vorurtheil voraus zu setzen scheint. N.... kam aber bei dem allen, daß er die Unvollkommenheit fast aller Dinge einsahe, doch nicht darauf, daß auch ein Schriftsteller, der so was Wahres und Schönes lehre, auch wohl nach andern Grundsätzen handeln könne, als man aus seinen Schriften schließen müsse, sondern bei diesem, glaubte er, würde es sich gewiß ganz anders verhalten; denn da er seine bessern Einsichten doch nun einmal nicht von sich selbst hatte, so war derjenige, von welchem er sie erlanget hatte, gewissermaßen über ihn erhaben; und da er keine Gelegenheit hatte, mit irgend einem solchen Manne bekannt zu seyn, so konnte er sich nicht einbilden, daß ein solcher Mann so etwas schreiben könne, ohne wirklich so zu denken wie er schriebe. Sein höchstes Glück auf Erden schien nun die Bekanntschaft eines solchen Mannes zu seyn; denn mit einem solchen Manne einen schriftlichen oder persönlichen Umgang pflegen zu können, schien ihm
So wie aber nichts vollkommen ist, so war er auch noch nicht vollkommen von Vorurtheilen frei, in sofern nehmlich eine jede Vorliebe fuͤr etwas auch eine gewisse Art von Vorurtheil voraus zu setzen scheint. N.... kam aber bei dem allen, daß er die Unvollkommenheit fast aller Dinge einsahe, doch nicht darauf, daß auch ein Schriftsteller, der so was Wahres und Schoͤnes lehre, auch wohl nach andern Grundsaͤtzen handeln koͤnne, als man aus seinen Schriften schließen muͤsse, sondern bei diesem, glaubte er, wuͤrde es sich gewiß ganz anders verhalten; denn da er seine bessern Einsichten doch nun einmal nicht von sich selbst hatte, so war derjenige, von welchem er sie erlanget hatte, gewissermaßen uͤber ihn erhaben; und da er keine Gelegenheit hatte, mit irgend einem solchen Manne bekannt zu seyn, so konnte er sich nicht einbilden, daß ein solcher Mann so etwas schreiben koͤnne, ohne wirklich so zu denken wie er schriebe. Sein hoͤchstes Gluͤck auf Erden schien nun die Bekanntschaft eines solchen Mannes zu seyn; denn mit einem solchen Manne einen schriftlichen oder persoͤnlichen Umgang pflegen zu koͤnnen, schien ihm <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0086" n="86"/><lb/> weil er sich nicht wie sonst durch Vorurtheile hatte abhalten lassen, von der Musik Gebrauch zu machen, nun außer druͤckenden Schulden war, einer festen Gesundheit genoß, und sich nicht so wie vorher mit schwermuͤthigen Gedanken plagte. </p> <p>So wie aber nichts vollkommen ist, so war er auch noch nicht <hi rendition="#b">vollkommen</hi> von Vorurtheilen frei, in sofern nehmlich eine jede Vorliebe fuͤr etwas auch eine gewisse Art von Vorurtheil voraus zu setzen scheint. </p> <p>N.... kam aber bei dem allen, daß er die Unvollkommenheit fast aller Dinge einsahe, doch nicht darauf, daß auch ein Schriftsteller, der so was Wahres und Schoͤnes lehre, auch wohl nach andern Grundsaͤtzen handeln koͤnne, als man aus seinen Schriften schließen muͤsse, sondern bei diesem, glaubte er, wuͤrde es sich gewiß ganz anders verhalten; denn da er seine bessern Einsichten doch nun einmal nicht von sich selbst hatte, so war derjenige, von welchem er sie erlanget hatte, gewissermaßen uͤber ihn erhaben; und da er keine Gelegenheit hatte, mit irgend einem solchen Manne bekannt zu seyn, so konnte er sich nicht einbilden, daß ein solcher Mann so etwas schreiben koͤnne, ohne wirklich so zu denken wie er schriebe. </p> <p>Sein hoͤchstes Gluͤck auf Erden schien nun die Bekanntschaft eines solchen Mannes zu seyn; denn mit einem solchen Manne einen schriftlichen oder persoͤnlichen Umgang pflegen zu koͤnnen, schien ihm<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [86/0086]
weil er sich nicht wie sonst durch Vorurtheile hatte abhalten lassen, von der Musik Gebrauch zu machen, nun außer druͤckenden Schulden war, einer festen Gesundheit genoß, und sich nicht so wie vorher mit schwermuͤthigen Gedanken plagte.
So wie aber nichts vollkommen ist, so war er auch noch nicht vollkommen von Vorurtheilen frei, in sofern nehmlich eine jede Vorliebe fuͤr etwas auch eine gewisse Art von Vorurtheil voraus zu setzen scheint.
N.... kam aber bei dem allen, daß er die Unvollkommenheit fast aller Dinge einsahe, doch nicht darauf, daß auch ein Schriftsteller, der so was Wahres und Schoͤnes lehre, auch wohl nach andern Grundsaͤtzen handeln koͤnne, als man aus seinen Schriften schließen muͤsse, sondern bei diesem, glaubte er, wuͤrde es sich gewiß ganz anders verhalten; denn da er seine bessern Einsichten doch nun einmal nicht von sich selbst hatte, so war derjenige, von welchem er sie erlanget hatte, gewissermaßen uͤber ihn erhaben; und da er keine Gelegenheit hatte, mit irgend einem solchen Manne bekannt zu seyn, so konnte er sich nicht einbilden, daß ein solcher Mann so etwas schreiben koͤnne, ohne wirklich so zu denken wie er schriebe.
Sein hoͤchstes Gluͤck auf Erden schien nun die Bekanntschaft eines solchen Mannes zu seyn; denn mit einem solchen Manne einen schriftlichen oder persoͤnlichen Umgang pflegen zu koͤnnen, schien ihm
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0802_1791/86>, abgerufen am 16.02.2025. |