Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791.
Bei ihm steht die Sonne noch eben da, wo sie damals stand, und doch ist sie auch zugleich bei ihm schon untergegangen. Denn wirklich ist alles das bei ihm, was er weiß, nicht was er empfindet. Wir denken uns die Ewigkeit Gottes als einen Augenblick, weil der Zeitpunkt unsrer Wirklichkeit nur ein Augenblick ist. Und das ist der Augenblick des Empfindens. Was ist nun mehr, Denken oder Empfinden? Welches von beiden sollen wir Gott zuschreiben? Vielleicht keins von beiden? Wer weiß denn, ob Gott denkt, ob selbst unser Denken nicht etwas Unvollkommenes ist, das bei uns den Mangel einer höhern Fähigkeit nur einigermaßen ersetzt. Es kann ja wirklich außer dem Denken noch eine Eigenschaft geben, die eben so verschieden von diesem ist, wie das Sehen vom Hören.
Bei ihm steht die Sonne noch eben da, wo sie damals stand, und doch ist sie auch zugleich bei ihm schon untergegangen. Denn wirklich ist alles das bei ihm, was er weiß, nicht was er empfindet. Wir denken uns die Ewigkeit Gottes als einen Augenblick, weil der Zeitpunkt unsrer Wirklichkeit nur ein Augenblick ist. Und das ist der Augenblick des Empfindens. Was ist nun mehr, Denken oder Empfinden? Welches von beiden sollen wir Gott zuschreiben? Vielleicht keins von beiden? Wer weiß denn, ob Gott denkt, ob selbst unser Denken nicht etwas Unvollkommenes ist, das bei uns den Mangel einer hoͤhern Faͤhigkeit nur einigermaßen ersetzt. Es kann ja wirklich außer dem Denken noch eine Eigenschaft geben, die eben so verschieden von diesem ist, wie das Sehen vom Hoͤren. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0071" n="71"/><lb/> ich damals dachte, und denke zugleich den gegenwaͤrtigen Gedanken.</p> <p>Bei ihm steht die Sonne noch eben da, wo sie damals stand, und doch ist sie auch zugleich bei ihm schon untergegangen. Denn wirklich ist alles das bei ihm, was er weiß, nicht was er empfindet. Wir denken uns die Ewigkeit Gottes als einen Augenblick, weil der Zeitpunkt unsrer Wirklichkeit nur ein Augenblick ist. Und das ist der Augenblick des Empfindens. Was ist nun mehr, Denken oder Empfinden? Welches von beiden sollen wir Gott zuschreiben? Vielleicht keins von beiden? </p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p>Wer weiß denn, ob Gott denkt, ob selbst unser Denken nicht etwas Unvollkommenes ist, das bei uns den Mangel einer hoͤhern Faͤhigkeit nur einigermaßen ersetzt. Es kann ja wirklich außer dem Denken noch eine Eigenschaft geben, die eben so verschieden von diesem ist, wie das Sehen vom Hoͤren. </p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0071]
ich damals dachte, und denke zugleich den gegenwaͤrtigen Gedanken.
Bei ihm steht die Sonne noch eben da, wo sie damals stand, und doch ist sie auch zugleich bei ihm schon untergegangen. Denn wirklich ist alles das bei ihm, was er weiß, nicht was er empfindet. Wir denken uns die Ewigkeit Gottes als einen Augenblick, weil der Zeitpunkt unsrer Wirklichkeit nur ein Augenblick ist. Und das ist der Augenblick des Empfindens. Was ist nun mehr, Denken oder Empfinden? Welches von beiden sollen wir Gott zuschreiben? Vielleicht keins von beiden?
Wer weiß denn, ob Gott denkt, ob selbst unser Denken nicht etwas Unvollkommenes ist, das bei uns den Mangel einer hoͤhern Faͤhigkeit nur einigermaßen ersetzt. Es kann ja wirklich außer dem Denken noch eine Eigenschaft geben, die eben so verschieden von diesem ist, wie das Sehen vom Hoͤren.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0802_1791/71>, abgerufen am 16.02.2025. |